Deutsch sprechen ist wie Fahrradfahren - hat man's einmal gemacht, braucht man nur wieder aufzusteigen ...
Rouvert Arvesten – auch als Rauert oder Rörd Arfsten bekannt - wurde 1547 auf der Insel Föhr geboren und starb 1616 im Alter von 69. Er war ein Schmackschiffer, Kaufmann, Bauer, Ratmann und Landvogt, und einer der reichsten Männer Föhrs seiner Zeit. Deshalb ist er auch als Mitstifter der Nieblumer Kirchkanzlei bekannt (‘St Johannis’, am Anfang des dreizehnten Jahrhunderts im Dorf Nieblum erbaut, wird als der ‘Friesendom’ bezeichnet). Um 1600 soll er das erste Packhaus im zukünftigen Städtchen Wyk errichtet haben.
Seine Nachfahren leben immer noch auf Föhr.
Dies haben wir auf seinem Grabstein entdeckt, der 2003 unter dem Stallfundament eines Oevenumer Bauernhofes gefunden wurde und der nun an der Mauer des Friesenmuseums in Wyk lehnt.
Für einen Australier ist es unglaublich, dass man über solche Informationen hier einfach so stolpert.
Für die meisten australischen Einwohner beginnt die Geschichte Australiens vor etwa 160 Jahren. Die Spuren, die die Aborigenes, die Ersten Australier (First Nation People), auf dem Kontinent hinterlassen haben, und die auf eine menschliche Anwesenheit im Lande von mindestens 40.000 Jahren hindeuten, werden von den meisten, europäisch geprägten Australiern, eher übersehen.
Wie erlebt jemand, der 1954 im Alter von acht Jahren nach Australien ‘ausgewandert wurde’, sein Geburtsland?
André wurde in Hamburg geboren, seit dem Ende des Krieges waren gerade mal zehn Monate vergangen.
In Hamburg ging alles drunter und drüber. Ausgebombt waren seine Mutter und ihre Familie in die Laube im Schrebergarten geflüchtet.
Eine Tante lebte in Kanada – der Wunsch, neu zu beginnen, den Schutt und die Ungewissheit hinter sich zu lassen, wuchs – bis Andrés Mutter ein Einwanderungsgesuch einreichte. Kanada lehnte ab – sie hatten genug Menschen. Australiens Grenzen waren noch offen.
In den 1970ern kehrt André das erste Mal zurück, im Laufe eines ‘Europajahres’ (Arbeit und Reisen), das viele junge Australier machten. Er lebte eine Weile im üblichen ‘bedsit’ (einem Zimmer mit Kochgelegenheit) in London, bereiste die Britischen Inseln, den Kontinent, sogar Russland. Von der kurzen Zeit in Deutschland bleibt nicht so viel im Gedächtnis haften. Er ist ja auch nur Tourist.
Bis er zwanzig Jahre alt war, sprach er immerhin mit seiner Mutter Deutsch – als er heiratete, verbat sich seine junge australische Frau das Deutsch.
Fünfzig Jahre spatter trifft er wieder in Deutschland ein – diesmal nicht als Tourist.
Seit vier Jahren planen wir unseren Rückzug und renovieren unser geerbtes Haus auf der Insel Föhr. Bis jetzt hat André die Bauarbeiten und Restoration aus der Ferne und über Skype geleitet. Nun kommen wir in die Endphase, und es ist Zeit, endlich mal eine ‘Ortsbegehung’ vorzunehmen.
Natürlich mache ich mir Sorgen, wie es ihm in Deutschland gefallen wird.
Wenn ich auf Föhr ankomme, bin ich zu Hause. Ich atme auf und entspanne mich, denn endlich bin ich wieder unter Menschen, die meine eigenen Eigenarten teilen! Niemand guckt mich komisch an, weil ich mich zu deutsch benehme – weil ich trotz des langen Aufenthalts in Australien immer noch nicht ganz so bin wie die ‘Anderen’, die Einheimischen.
Aber ich kenne genügend Australier, die Deutschland besucht haben, und die Deutschen und ihre Art putzig finden; die Sachen bemerken, die einem Deutschen selbst gar nicht auffallen. Wie wird André uns erleben?
Meine andere große Sorge ist: Wie wird mein Lebensgefährte mit der Sprache zurechtkommen? Werde ich die ganze Zeit hin-und-her übersetzen müssen?
Wird es ihn frustrieren, nichts zu verstehen? Mich, ständig von einer Sprache in die andere wechseln zu müssen?
Wir haben genug mit den Reisevorbereitungen zu tun – ich verdränge erstmal das Sprachproblem.
Wir landen kurz nach Mittagszeit in Hamburg – ein Direktflug von Dubai. Meine Schwester holt uns ab – alles gut, sie spricht Englisch. Bevor wir ins Auto steigen, um uns auf die zwei-einhalbstündige Fahrt nach Föhr zu begeben, entschließen wir, erstmal eine Tasse Kaffee zu trinken.
André muss mal aufs Klo. Umzingelt von Gepäckstücken, senden wir ihn in die richtige Richtung, das Schildchen für die Herren ist ja leicht erkenntlich.
Die Zeit vergeht, André kehrt nicht zurück. Ich schaue unruhig auf und ab – und da erscheint er. “Ich habe mir ein Handy gekauft,” erklärt er freudestrahlend.
Ich soll nochmal mitkommen.
Im Laden empfängt der Verkäufer ihn freundlich – auf Deutsch. Und André antwortet auf Deutsch. Nur manchmal fehlt ein Wort, hakt es etwas … der Verkäufer ist selbst auch kein Deutscher und sie verständigen sich, notfalls mit Händen und Füßen. Ich höre und staune.
Auf der Fähre nach Föhr bestellt er sich einen Kaffee; im Restaurant, das wir wegen unserer späten Ankunft am Abend aufsuchen, eine Pizza. Auf Deutsch.
Erstaunlich wie schnell er sich wieder in die Sprache einfühlt.
Erst ist es noch anstrengend für ihn, er legt sich die Worte zurecht oder übersetzt, was er sagen will, aus dem Englischen.
Und doch besteht sein Deutsch nicht aus simplen Phrasen, wie ich sie zum Beispiel im deutschen Anfängerunterricht lehren würde. Er benutzt Ausdrücke und Worte, die aus dem tiefsten Unterbewusstsein kommen müssen.
Obwohl er keine lebhaften Erinnerungen an seine frühen Jahre in Deutschland hat, beweisen seine Sprachkenntnisse, wie sehr er in dieser wichtigen Wachstumsphase von null bis acht Jahren geprägt wurde.
Ich, die Deutschlehrerin, bin fasziniert! Und lerne.
André übt sein Deutsch mit meinem Cousin, der uns bei der Renovierung hilft.
Sie führen lange Gespräche, lachen und scherzen.
“Mit Sven sprichst du ja richtig gut,” sage ich.
“Ich kann ganz entspannt mit ihm sprechen, wenn mir ein Wort fehlt, kann ich es auf Englisch sagen.”
Sven spricht mit seiner tschechischen Frau auch viel Englisch – aber er hat Feingefühl. Obwohl Andrés Deutsch noch nicht ganz akzentfrei und noch nicht grammatikalisch rein ist, fällt Sven nicht ungeduldig ins Englische. Ein Wort hier und da, aber immer wieder ist er bereit, ins Deutsche zurückzukehren.
Wie oft habe ich es beobachtet, dass Deutsche ihre Partner in meinen Deutschunterricht schicken, und die ganz verschüchtert und ängstlich auftreten.
Kaum ein Wort wagen sie zu sagen – warum? Zu Hause wird jedes falsche Wort, jede unreine Aussprache sofort korrigiert.
Aber es ist nicht nur Svens Geduld, die das Deutschüben erleichtert: Die beiden haben auch ihr Interesse am Bau und am Renovieren gemein. Es ist ein Thema, das in beiden Feuereifer erregt.
Eigentlich ist das ja ganz klar: Jeder Schüler lernt freudig, konzentriert sich und legt sich in die Stränge, wenn ihn das Thema interessiert. Aber Lehrpläne richten sich nicht immer nach den Interessen der Lernenden.
Ich habe mir die Zeitung bestellt, das ist ein Muss, wenn man auf Föhr auf dem Laufenden sein und mitreden will. Im ‘Inselboten’ ist ein ganzer Teil den Inselnachrichten und den Veranstaltungen gewidmet. Man erfährt von Ladeneröffnungen; kulturellen Ereignissen; der Stadtpolitik und wer heiratet, geboren worden ist oder einen besonderen Geburtstag feiert. Jemand hat eine Kaffeemaschine auf der heißen Herdplatte stehen lassen und beinah einen Großbrand ausgelöst. Die Freiwillige Feuerwehr rückt aus, aber ein Glück sind es nur Rauchschwaden, die bekämpft werden müssen. Im Stadtrat laufen heiße Debatten ab, ob man die Fußgängerzone ganz und gar durch Poller schließen sollte, oder den Kurgästen freie Anfahrt zu ihren Mietwohnungen erlauben müsste. Interessante Themen, an denen wir alle teilnehmen.
Mit einem Tupfer Schuldbewusstsein linse ich mit der zweiten Tasse Kaffee in Richtung Zeitung. Ich erinnere mich, dass ich zwei Jahre brauchte, bevor ich anfing, die Melbourne Age zu lesen – obwohl ich gut Englisch sprechen konnte als ich in Australien eintraf.
Jedoch schon am zweiten Tag greift André sich einen Teil und überfliegt die Schlagzeilen. Drei Wochen später liest er ganze Artikel!
Aber zuerst entdeckt er die Kleinanzeigen. In Melbourne hat er schon mehrere Gebrauchtwagen gekauft – jetzt recherchiert er hier: die Kapazität der Motoren; das Leistungsverhältnis Kilometerzahl – Benzinverbrauch; Alter des Autos – Preis; die gängigen Modelle.
Anders als in Australien, wo japanische Marken wie Toyota oder koreanische Hyundai das Straßenbild prägen, haben hier deutsche Marken wie VW und Audi den Vorrang.
Deutsch üben mit Kleinanzeigen!
Ein weiterer Treffer ist eBay. Wir suchen nämlich noch nach gewissem Mobilar für unser Haus – alt oder antik sollte es sein. Ich hätte gern ein Regal für die Küche. Einen Schlüsselkasten brauchen wir – ach ja, und einen Kleiderschrank. Die, die wir in unserem Haus in Melbourne stehen haben, sind zu breit, um unter die Dachschrägen zu passen. Motiviert stöbert André durch eBays Angebot.
“Alles, was ich finden kann, steht in Stuttgart, Berchtesgaarden oder abgelegenen Örtchen in der Pfalz oder im Schwarzwald. ‘Nur für Selbstabholer’ kommt für uns Nordlichter nicht in Frage.”
Und nun weist meine Schwester uns auf etwas hin, was sich als wahre Schatzkiste erweist: ‘EBay Kleinanzeigen Schleswig-Holstein’. Super was man dort alles findet: Die Preise sind kulant, die telefonischen Kontakte mit den Verkäufern führen zu netten Gesprächen und gleichzeitig lernt man etwas über die Geografie Schleswig-Holsteins.
André beginnt allein einkaufen zu gehen. Der kurze Austausch an der Wursttheke oder an der Kasse fördern seine Sprachgewandheit. Immer flüssiger werden seine Gespräche, immer leichter fällt es ihm, alles zu verstehen.
Dass er Deutsch mühelos und ohne sich zu konzentrieren aufnimmt, zeigt sich als wir uns beim Wyker Fischmarkt hinsetzen, um das obligatorische Fischbrötchen zu verzehren. Vor uns sitzen zwei Ehepaare, die sich über Fährverbindungen unterhalten – insbesonders, dass ab und zu bei extremen Niedrigwasser mal eine Fähre ausfällt. Ich höre nicht zu – lasse statt dessen meinen Blick über das Treiben auf der alten Mole schweifen und beobachte ein Segelboot, dass sich zur Ausfahrt vorbereitet.
Als wir uns gestärkt wieder auf den Weg machen, meint André: “Wie ärgerlich es ist, wenn eine Fähre nicht fährt. Was, wenn man einen Zug ode rein Flugzeug erreichen muss?”
Erstaunt registriere ich, dass er, ohne sich besonders zu konzentrieren, alles verstanden hat, worüber die Leute an unserem Tisch sprachen.
Fast mühelos folgt er inzwischen Gesprächen; fragt einen Mann, der vor dem Supermarkt mit seinem Hund wartet, nach deren Rasse. Erfährt, dass es ein portugiesischer Wasserhund mit einem ‘Löwenschnitt’ ist (vorn relativ langes Fell, hinten kurzgeschoren) und tauscht sich mit dem Herrn über portugiesische Wasserhunde im Besonderen und Hunde im Allgemeinen aus.
Mit unseren Handwerkern bespricht er unsere Renovierung, benutzt Terminologie, die mir unbekannt ist!
Sie diskutieren Rohrleitungen und Anschlüsse, sprechen über Zargen und Ausgleichmasse …
Im Supermarkt sucht er nach ‘Anchovis’, diesen kleinen eingelegten Fischchen mit denen er gern den Salat bereichert. Während ich noch suchend an den Regalen vorbei irre, hat er schon einen Verkäufer ausfindig gemacht und dem erklärt was er sucht. Und da sind sie schon. Die flachen Döschen mit ‘Appetitselt’, genau wie ich sie aus meiner Kindheit erinnere.
Er schreckt vor keinem Thema zurück, drückt sich mit Humor und oft schlagfertig aus!
Und sogar sein angeborener Hamburger Akzent schimmert hindurch!
‘Zeig mir das Kind mit sieben Jahren und ich zeig dir den Mann”, sagte ein berühmter Philosoph (Aristotelus oder St Ingnatius?) und inspirierte Soziologen zu interessanten Forschungen wie z.B. ‘Seven Up’, eine TV Serie, die eine Gruppe von Kindern im Alter von sieben Jahren und dann in siebenjährigen Abständen filmte.
In André scheint sich die Theorie zu bestätigen. Sein Sprachschatz hatte sich in ihm gefestigt, bevor er Deutschland verließ, und nun schöpft er aus dem frühen Wissen.
Nur eins ägert ihn: “Deutsche benutzen so viele lange Wörter!”
Und wie gefällt es ihm in Deutschland? Darüber mehr - im nächsten blog