„Stolpersteine“ nennt man die kleinen Gedenktafeln im Bürgersteig ...
„Stolpersteine“ nennt man die kleinen Gedenktafeln im Bürgersteig. Verlegt werden sie von dem Künstler Gunter Demnig, um an das Schicksal von Menschen zu erinnern, die durch die Nationalsozialisten ermordet wurden -oder den wenigen, denen die Flucht gelang. Juden; Sinti und Roma; politisch Verfolgte; religiös Verfolgte; Zeugen Jehovas; Menschen mit geistiger und/oder körperlicher Behinderung; Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Hautfarbe verfolgt wurden; als „asozial“ verfolgte Menschen, wie Obdachlose oder Prostituierte; Zwangsarbeiter und Deserteure.
Am 29. Juni 2020 trafen wir - die Familie, Freunde, Bekannte und Interessierte -, uns vor dem kleinen Friesenhaus in Boldixum auf der Insel Föhr, in der Straße Grönland Nr 2, um so einen Stein zu verlegen.
Herr Demnig selbst war angereist, um die kleine Messingplatte auf ihrem Steinsockel im Kopfsteinpflaster vor dem Haus unserer Urgroßeltern zu verlegen. Diese Aktion erlaubte uns, das Gedenken an eine Person, die lange in die Vergessenheit verdrängt worden war, zu ehren: Christine Jürgensen, die am 14. September 1944 im Zuge des T4 Programms (auch ‚Krankenmorde‘ oder ‚Euthanasie‘ genannt) ermordet wurde.
Am 29. Juni 2020 trafen wir - die Familie, Freunde, Bekannte und Interessierte -, uns vor dem kleinen Friesenhaus in Boldixum auf der Insel Föhr, in der Straße Grönland Nr 2, um so einen Stein zu verlegen.
Herr Demnig selbst war angereist, um die kleine Messingplatte auf ihrem Steinsockel im Kopfsteinpflaster vor dem Haus unserer Urgroßeltern zu verlegen. Diese Aktion erlaubte uns, das Gedenken an eine Person, die lange in die Vergessenheit verdrängt worden war, zu ehren: Christine Jürgensen, die am 14. September 1944 im Zuge des T4 Programms (auch ‚Krankenmorde‘ oder ‚Euthanasie‘ genannt) ermordet wurde.
Herr Demnig selbst war angereist, um die kleine Messingplatte auf ihrem Steinsockel im Kopfsteinpflaster vor dem Haus unserer Urgroßeltern zu verlegen. Diese Aktion erlaubte uns, das Gedenken an eine Person, die lange in die Vergessenheit verdrängt worden war, zu ehren: Christine Jürgensen, die am 14. September 1944 im Zuge des T4 Programms (auch ‚Krankenmorde‘ oder ‚Euthanasie‘ genannt) ermordet wurde.
Als meine Schwestern und ich aufwuchsen, wurde diese Großtante nie erwähnt. Wir sahen nie Familienphotos, auf denen Christine eingeschlossen war. Nie erwähnte unsere Oma die Schwester. Wenn vom Leben im Haus Grönland Nr 2 erzählt wurde, kam Christine nie vor. Erst viel später entdeckten meine ältere Schwester und ich ihren Namen auf dem Grabstein der Urgroßeltern und wunderten uns: Wer war denn Christine?
Befragt, erzählte meine Mutter, dass Christine nach ‚Schleswig‘ gekommen war. Für uns Kinder bedeutete ‚Schleswig‘ damals nicht die Stadt mit dem schönen Altstadtkern, der Schlei, oder dem Wikingermuseum mit dem Danewerk – ‚Schleswig‘ war gleichbedeutend mit der ‚Irrenanstalt‘, die dort lag und von der jedes Kind wusste. ‚Schleswig‘ löste ein Gruseln aus – und die Angst vor dem ‚Anderen‘, dem ‚Nicht-Dazugehören‘, dem ‚Nicht-Richtig-sein‘.
Als ich viele Jahre später wieder mal nachfragte, was denn mit Christine geschehen sei, erfuhr ich, sie sei in ‚den Osten‘ gekommen und von dort hätte die Familie die Nachricht ihres Todes erhalten.
Die Tatsache, dass sie in Schleswig in die Heilanstalt eingewiesen wurde, ist erschreckend genug. Aber was passierte, wieso kam sie im Osten um? Keiner scheint es zu wissen, Papiere oder Dokumente bestehen nicht.
Als meine Schwestern und ich aufwuchsen, wurde diese Großtante nie erwähnt. Wir sahen nie Familienphotos, auf denen Christine eingeschlossen war. Nie erwähnte unsere Oma die Schwester. Wenn vom Leben im Haus Grönland Nr 2 erzählt wurde, kam Christine nie vor. Erst viel später entdeckten meine ältere Schwester und ich ihren Namen auf dem Grabstein der Urgroßeltern und wunderten uns: Wer war denn Christine?
Befragt, erzählte meine Mutter, dass Christine nach ‚Schleswig‘ gekommen war. Für uns Kinder bedeutete ‚Schleswig‘ damals nicht die Stadt mit dem schönen Altstadtkern, der Schlei, oder dem Wikingermuseum mit dem Danewerk – ‚Schleswig‘ war gleichbedeutend mit der ‚Irrenanstalt‘, die dort lag und von der jedes Kind wusste. ‚Schleswig‘ löste ein Gruseln aus – und die Angst vor dem ‚Anderen‘, dem ‚Nicht-Dazugehören‘, dem ‚Nicht-Richtig-sein‘.
Als ich viele Jahre später wieder mal nachfragte, was denn mit Christine geschehen sei, erfuhr ich, sie sei in ‚den Osten‘ gekommen und von dort hätte die Familie die Nachricht ihres Todes erhalten.
Die Tatsache, dass sie in Schleswig in die Heilanstalt eingewiesen wurde, ist erschreckend genug. Aber was passierte, wieso kam sie im Osten um? Keiner scheint es zu wissen, Papiere oder Dokumente bestehen nicht.
"T4" heißt das Programm der Nationalsozialisten, das eine Reinigung des deutschen Volkes bewirken und es von Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen - „nutzlose und asoziale Schädlinge“ - befreien sollte
Ich lese nach und recherchiere. Das T4 Programm der Nationalsozialisten basierte auf dem Prinzip der Eugenik. Es sollte eine Reinigung des deutschen Volkes darstellen - zwischen 1939 und 1945 wurden Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen als „nutzlose und asoziale Schädlinge“ bezeichnet, die die Volksgesundheit bedrohten und deshalb ermordet wurden. Mindestens 200.000 Menschen kamen so um.
Zu diesem Zeitpunkt habe ich schon die ersten beiden meiner Föhr Krimis veröffentlich und ich beginne eine Handlung für den Dritten zu entwickeln, der auch diese dunkle Seite des Nationalsozialismus behandelt. Mein Sohn weilt zu der Zeit in Deutschland (ich lebe noch in Melbourne, Australien). Ich erzähle ihm am Telefon von meiner Idee und auch von der Großtante Christine. Wenige Tage später ruft er mich zurück. An der Uni Hamburg hat er eine Dozentin getroffen, die bereit ist, mir weiterzuhelfen!
Frau Dr. Beate Meyer ist assoziierte Wissenschaftlerin am Institut für die Geschichte der deutschen Juden und ist bereit, nach Christine zu suchen!
Erstaunlicherweise - ich habe damals nicht mal ihr Geburtsdatum! - findet Frau Dr. Meyer schnell den ersten greifbaren Hinweis auf das Schicksal unserer Großtante im Landesarchiv.
Zu diesem Zeitpunkt habe ich schon die ersten beiden meiner Föhr Krimis veröffentlich und ich beginne eine Handlung für den Dritten zu entwickeln, der auch diese dunkle Seite des Nationalsozialismus behandelt. Mein Sohn weilt zu der Zeit in Deutschland (ich lebe noch in Melbourne, Australien). Ich erzähle ihm am Telefon von meiner Idee und auch von der Großtante Christine. Wenige Tage später ruft er mich zurück. An der Uni Hamburg hat er eine Dozentin getroffen, die bereit ist, mir weiterzuhelfen!
Frau Dr. Beate Meyer ist assoziierte Wissenschaftlerin am Institut für die Geschichte der deutschen Juden und ist bereit, nach Christine zu suchen!
Erstaunlicherweise - ich habe damals nicht mal ihr Geburtsdatum! - findet Frau Dr. Meyer schnell den ersten greifbaren Hinweis auf das Schicksal unserer Großtante im Landesarchiv.
„Am 3. Juli 1920 wird das Dienstmädchen Christine Hermine Jürgensen von ihrem Vater in die Landesheilanstalt Schleswig-Stadtfeld gebracht. Der zuständige Staatsanwalt ist involviert, allerdings wird aus den wenigen handschriftlichen Notizen nicht deutlich, warum und in welcher Form. Neben einer Registrierkarte der persönlichen Dinge verrät die Akte nur, dass Frau Jürgensen am 12. August 1920 wieder nach Boldixum entlassen wird. Eine Diagnose oder andere Bemerkungen zu ihrer Krankheit oder Behandlung sucht man vergeblich. Das Fehlen von Behandlungsunterlagen deutet darauf hin, dass sie wieder in Stadtfeld eingewiesen wurde und von dort in eine Tötungsanstalt verlegt wurde.“
Die Spur scheint also 1920 zu verlaufen. Blieb Christine in Schleswig – bis an ihr Lebensende? Meine Schwester erzählt, dass unsere Oma ihre Schwester Christine einmal in Schleswig besucht haben soll. Es scheint unmöglich, mehr herauszufinden.
Und doch geistert Christine immer mal wieder durch meinen Kopf - beharrlich erinnert sie an sich, bis ich eines Tages entschließe, mehr über sie herauszufinden. 2008 rufe ich eine ihrer direkten Nichten an, Bernice, die inzwischen in Amerika lebt. Sie erinnert sich an die Tante, die sie wegen ihrer Sonderlichkeit ängstigte. Einmal soll sie des Nachts durchs Haus gegeistert sein – schreiend drohend, das Haus anzuzünden. Ihre Nichte war damals ein kleines Mädchen, natürlich hat sie der Vorfall erschrocken. Ein noch lebender Neffe jedoch hat warme Erinnerungen an sie. Es wird auch berichtet, dass Christine still war und sehr schön sticken konnte. Viele Jahre später erbt meine ältere Schwester, eine Tischdecke, die Christine mit einem feinen Kreuzstichmuster bedeckt hat.
Eine Cousine - Christines Großnichte - gibt mir die Kopie eines Photos, auf dem Christine mit ihren Eltern und Schwestern dargestellt ist. Zum ersten Mal sehe ich diese Person, die mir bis dahin immer etwas unwirklich erschien. Ich bin tief berührt – vor allem, da sie meiner Oma sehr ähnlich sieht, die gleiche aufrechte Haltung, das ernste Gesicht.
Fast zehn Jahre später, 2017, entdecke ich im Hause meiner Großeltern, das mein Mann und ich inzwischen übernommen haben, eine alte Familienbibel. Und darin, in deutlicher Handschrift, eine Liste der Familie Jürgensen – geschrieben von Christines Vater!
Und doch geistert Christine immer mal wieder durch meinen Kopf - beharrlich erinnert sie an sich, bis ich eines Tages entschließe, mehr über sie herauszufinden. 2008 rufe ich eine ihrer direkten Nichten an, Bernice, die inzwischen in Amerika lebt. Sie erinnert sich an die Tante, die sie wegen ihrer Sonderlichkeit ängstigte. Einmal soll sie des Nachts durchs Haus gegeistert sein – schreiend drohend, das Haus anzuzünden. Ihre Nichte war damals ein kleines Mädchen, natürlich hat sie der Vorfall erschrocken. Ein noch lebender Neffe jedoch hat warme Erinnerungen an sie. Es wird auch berichtet, dass Christine still war und sehr schön sticken konnte. Viele Jahre später erbt meine ältere Schwester, eine Tischdecke, die Christine mit einem feinen Kreuzstichmuster bedeckt hat.
Eine Cousine - Christines Großnichte - gibt mir die Kopie eines Photos, auf dem Christine mit ihren Eltern und Schwestern dargestellt ist. Zum ersten Mal sehe ich diese Person, die mir bis dahin immer etwas unwirklich erschien. Ich bin tief berührt – vor allem, da sie meiner Oma sehr ähnlich sieht, die gleiche aufrechte Haltung, das ernste Gesicht.
Fast zehn Jahre später, 2017, entdecke ich im Hause meiner Großeltern, das mein Mann und ich inzwischen übernommen haben, eine alte Familienbibel. Und darin, in deutlicher Handschrift, eine Liste der Familie Jürgensen – geschrieben von Christines Vater!
(Photo: Die Taufe von Uwe Nielsen, 1923. Louise und Christian Jürgensen sitzend; stehend von links: Hanna, Meta und Ewald Nielsen, Lieschen, Christine)
Drei Schwestern hatte sie. Meine Oma, Meta, war die Älteste. Dann kam Johanna, Hanna genannt; Christine (Stine) und schließlich Luise oder Lieschen. Die Eltern waren Christian Emil Jürgensen, ein ‚Landmann‘, der aber nicht von Föhr stammte, und Louise Marie, geborene Beck, aus Borgsum auf Föhr.
Langsam kann ich mir ein Bild von der Familie machen – mit Hilfe der Cousine, deren Mutter, Lucy, als Kind in dem Haus in Boldixum aufgewachsen ist. Das Haus steht immer noch in Grönland Nr 2, obwohl es inzwischen abgerissen und wieder neu aufgebaut wurde (auf demselben Grundriss). Steht man heute vor dem Haus, ist es schwer sich ein sechs-köpfige Familie dort vorzustellen. Es ist ein typisches kleines Friesenhaus – strohgedeckt, mit einem niedrigen Dach und einem Heuboden. Die ganz linke Seite des Hauses nahm der Stall ein. Hier standen Uropa Jürgensens Kühe und sicher auch das eine oder andere Schwein. Bis zu seinem Tode hielt er Kühe, als er zu alt wurde, sie selbst zu melken, mussten die Enkelin Lucy und ihr Mann morgens nach Boldixum radeln, um zu melken.
Auch Äcker und Felder besaß er, und während seine Enkelkinder sich an fröhliche Kutschfahrten zur Wrixumer Mühle erinnern, wo das Korn gemahlen wurde, fanden sie die harte Feldarbeit, an der sie im Sommer und Herbst teilnehmen mussten, nicht so lustig. Aber Uropa Jürgensen war streng und bestand auf der Hilfe seiner Familie.
Auf der rechten Seite des Hauses fand man die Küche, die ‚gute‘ Stube, auf Grund der Delfter Kacheln an den Wänden das ‚Kachelzimmer‘ genannt, und das holzgetäfelte Zimmer. Dort standen die Alkoven, in denen die Eltern und Töchter schliefen.
Sicher hätte Uropa Jürgensen sich einen Sohn gewünscht, der seinen Bauernhof hätte übernehmen können. Aber er kann auf seine Töchter stolz sein. Drei von ihnen heiraten bodenständige, fleißige Handwerker. Meta ehelicht 1922 den Tischlermeister Ewald Nielsen aus Wyk. Hanna heiratet wenige Monate später den Sohn einer bekannten Wyker Bäckersfamilie. Er selbst ist Elektriker und er wandert mit seiner Hanna nach Amerika aus.
Leider stirbt er sehr früh an Krebs und Hanna kehrt mit zwei kleinen Mädchen (Lucy und Bernice) zurück ins Haus in Boldixum. Sie lebt dort bis an ihr Lebensende – als Uroma Louise stirbt (noch vor dem Zweiten Weltkrieg) führt Hanna dem Vater das Haus und pflegt ihn bis zu seinem Tode.
Die jüngste Tochter, Lieschen, heiratet einen erfolgreichen Bauunternehmer. Sie ‚wandert‘ nach Bordelum aus – und leidet ihr Leben lang an Heimweh nach Föhr! Sie kehrt oft zu Besuchen zurück.
Wahrscheinlich war es ein Segen, dass Uroma Louise so früh starb, sie erlebte nicht mehr, das grausame Schicksal, das ihrer Tochter Christine widerfuhr.
Ungleich ihrer Schwestern heiratete Christine nicht. Zum Ende des Ersten Weltkrieges erlag ihr Verlobter seinen schweren Verletzungen. Es heißt, er starb einen schmerzhaften Tod auf dem Operationstisch. Christine war verzweifelt und fiel in eine schwere Depression, von der sie sie sich nie erholte. Eventuell litt sie an einer manischen Depression, das könnte das Schreien und die Drohung erklären, an die ihre Nichte Bernice sich erinnert. Jedenfalls liefert ihr Leiden sie dann 24 Jahre später in die Hände der Nazis aus, die ihr Leben als ‚nutzlos‘ klassifizierten, ihre Person als eine Bedrohung der Reinheit des Deutschen Volkes.
Drei Schwestern hatte sie. Meine Oma, Meta, war die Älteste. Dann kam Johanna, Hanna genannt; Christine (Stine) und schließlich Luise oder Lieschen. Die Eltern waren Christian Emil Jürgensen, ein ‚Landmann‘, der aber nicht von Föhr stammte, und Louise Marie, geborene Beck, aus Borgsum auf Föhr.
Langsam kann ich mir ein Bild von der Familie machen – mit Hilfe der Cousine, deren Mutter, Lucy, als Kind in dem Haus in Boldixum aufgewachsen ist. Das Haus steht immer noch in Grönland Nr 2, obwohl es inzwischen abgerissen und wieder neu aufgebaut wurde (auf demselben Grundriss). Steht man heute vor dem Haus, ist es schwer sich ein sechs-köpfige Familie dort vorzustellen. Es ist ein typisches kleines Friesenhaus – strohgedeckt, mit einem niedrigen Dach und einem Heuboden. Die ganz linke Seite des Hauses nahm der Stall ein. Hier standen Uropa Jürgensens Kühe und sicher auch das eine oder andere Schwein. Bis zu seinem Tode hielt er Kühe, als er zu alt wurde, sie selbst zu melken, mussten die Enkelin Lucy und ihr Mann morgens nach Boldixum radeln, um zu melken.
Auch Äcker und Felder besaß er, und während seine Enkelkinder sich an fröhliche Kutschfahrten zur Wrixumer Mühle erinnern, wo das Korn gemahlen wurde, fanden sie die harte Feldarbeit, an der sie im Sommer und Herbst teilnehmen mussten, nicht so lustig. Aber Uropa Jürgensen war streng und bestand auf der Hilfe seiner Familie.
Auf der rechten Seite des Hauses fand man die Küche, die ‚gute‘ Stube, auf Grund der Delfter Kacheln an den Wänden das ‚Kachelzimmer‘ genannt, und das holzgetäfelte Zimmer. Dort standen die Alkoven, in denen die Eltern und Töchter schliefen.
Sicher hätte Uropa Jürgensen sich einen Sohn gewünscht, der seinen Bauernhof hätte übernehmen können. Aber er kann auf seine Töchter stolz sein. Drei von ihnen heiraten bodenständige, fleißige Handwerker. Meta ehelicht 1922 den Tischlermeister Ewald Nielsen aus Wyk. Hanna heiratet wenige Monate später den Sohn einer bekannten Wyker Bäckersfamilie. Er selbst ist Elektriker und er wandert mit seiner Hanna nach Amerika aus.
Leider stirbt er sehr früh an Krebs und Hanna kehrt mit zwei kleinen Mädchen (Lucy und Bernice) zurück ins Haus in Boldixum. Sie lebt dort bis an ihr Lebensende – als Uroma Louise stirbt (noch vor dem Zweiten Weltkrieg) führt Hanna dem Vater das Haus und pflegt ihn bis zu seinem Tode.
Die jüngste Tochter, Lieschen, heiratet einen erfolgreichen Bauunternehmer. Sie ‚wandert‘ nach Bordelum aus – und leidet ihr Leben lang an Heimweh nach Föhr! Sie kehrt oft zu Besuchen zurück.
Wahrscheinlich war es ein Segen, dass Uroma Louise so früh starb, sie erlebte nicht mehr, das grausame Schicksal, das ihrer Tochter Christine widerfuhr.
Ungleich ihrer Schwestern heiratete Christine nicht. Zum Ende des Ersten Weltkrieges erlag ihr Verlobter seinen schweren Verletzungen. Es heißt, er starb einen schmerzhaften Tod auf dem Operationstisch. Christine war verzweifelt und fiel in eine schwere Depression, von der sie sie sich nie erholte. Eventuell litt sie an einer manischen Depression, das könnte das Schreien und die Drohung erklären, an die ihre Nichte Bernice sich erinnert. Jedenfalls liefert ihr Leiden sie dann 24 Jahre später in die Hände der Nazis aus, die ihr Leben als ‚nutzlos‘ klassifizierten, ihre Person als eine Bedrohung der Reinheit des Deutschen Volkes.
2018 schlägt meine ältere Schwester vor, einen Stolperstein für Christine legen zu lassen.
Es ist Zeit, sich ernsthaft mit dem Schicksal Christines zu beschäftigen.Zögerlich wende ich mich an den Verein Stolpersteine.eu. Erstaunlicherweise wird mir versichert, dass auch die karge Information, die ich zu diesem Zeitpunkt besitze, genügt - Christines Name, ihr Geburtsort und Datum, ihre Einweisung in die Heilanstalt Schleswig-Stadtfeld 1920. Die Verlegung kann aber erst in etwa einem Jahr stattfinden, weil Herr Demnig alle Steine selbst verlegt.
Inzwischen habe ich auch bei einem Besuch auf unserem Dachboden alte private Briefe gefunden, aus der Zeit von 1905 bis etwas 1970! Sie sind zum größten Teil in der alten Kurrent und in Süterlinschrift geschrieben, die ich nicht lesen kann. Aber eine andere Cousine hat es sich zum Hobby gemacht, diese Schriften zu studieren und sie übersetzt geduldig die vielen Briefe.
Und erstaunlicherweise erscheinen hier wieder Hinweise auf Christine. 1940 sendet ein Onkel aus Hamburg Grüße an die Familie in Boldixum – einschließlich Christine. 1940 lebt sie also im Haus Grönland 2 in Boldixum!
Nachfragen bei ihren direkten Nichten und Neffen bestätigt diese Auskunft: Nach ihrem kurzen Aufenthalt in Schleswig-Stadtfeld im Jahre 1920 lebt Christine bei ihren Eltern. Später stößt dann Hanna, aus Amerika zurückgekehrt, mit ihren beiden Töchtern, Lucy und Bernice, dazu. Wieder einmal sind die Alkoven in der getäfelten Stube wohl besetzt!
Doch dann erscheint ein Brief aus dem Jahre 1941. Hier erkundigt sich eine Bekannte aus Schleswig nach Christine und fragt, ob sie Christine in Schleswig-Stadtfeld besuchen sollte?
1941 ist Christine also wieder in der Heilanstalt. Wie ist sie dort hingekommen? Warum?
Da die Stadtfelder Patientenakten vernichtet worden sind, wissen wir keine Antwort darauf, wir können nur spekulieren. Verschlimmerte sich ihre Krankheit? War es für die Familie zu schwer, Christine zu Hause zu behalten - in dem politischen Klima, in dem Ahnenpässe jede Familie registrieren und eine Behinderte einen Schatten auf das Leben ihrer Familie werfen kann? Wurde sie denunziert oder zwangseingewiesen?
Es ist nicht bekannt. 1941 ist sie also wieder in Stadtfeld – aber wie kam sie nach Pommern?
Ich suche im Kirchenarchiv nach Christines Todesurkunde. Die Kirchenbücher aus der Zeit liegen in der Ferring Stiftung in Alkersum auf Föhr. Ich besuche den Archivar – mit wenig Hoffnung, die Information zu erhalten, die ich suche. Jedoch, wenige Minuten später erscheint Herr Jannen mit einem gebundenen Buch, aufgeschlagen an der richtigen Seite. Nun liegt uns Christines Geburtsurkunde vor! Geboren wurde sie am 5. September 1902, sie war also erst 18 Jahre alt, als sie 1920 in Schleswig-Stadtfeld eingewiesen wurde.
Und ganz unten rechts, versehen mit einem Stempel des zuständigen Standesamts Mesewitz/Obrawalde
ihr Todesdatum: 22. September 1944 in der ‚Heil- und Pflegeanstalt Meseritz‘.
Photos: Ingo Wille
Da ist er also: der Beweis, dass Christine tatsächlich in „den Osten“ kam und dort starb.
Ich erneuere den Kontakt zu Frau Dr. Meyer, die inzwischen Teil eines Netzwerkes von Leuten ist, die sich alle mit den Opfern der Nazis beschäftigen und die unermüdlich recherchieren, Archive einsehen und Orte bereisen, wo noch Akten aufzufinden sind. Frau Dr. Meyer leitet meine Anfrage an den ‚Stolpersteinforscher‘, Herrn Ingo Wille weiter. Später sendet Herr Wille mir die Photos, die er selbst bei einem Besuch in Mesewitz gemacht hat.
Dann stoße ich mit Hilfe von Frau Dr. Myer und Herrn Wille auf Dr. Harald Jenner. Er findet einen kurzen Eintrag im Aufnahmebuch Schleswig-Stadtfelds, nämlich dass Christine Jürgensen am 14. September 1944 aus Stadtfeld nach Meseritz in die „Heil- und Pflegeanstalt Obrawalde“ deportiert wurde. Eine Diagnose oder ein Befund zu ihrem Zustand fehlen.
Noch erschreckender ist folgende, begleitende Notiz:
Da ist er also: der Beweis, dass Christine tatsächlich in „den Osten“ kam und dort starb.
Ich erneuere den Kontakt zu Frau Dr. Meyer, die inzwischen Teil eines Netzwerkes von Leuten ist, die sich alle mit den Opfern der Nazis beschäftigen und die unermüdlich recherchieren, Archive einsehen und Orte bereisen, wo noch Akten aufzufinden sind. Frau Dr. Meyer leitet meine Anfrage an den ‚Stolpersteinforscher‘, Herrn Ingo Wille weiter. Später sendet Herr Wille mir die Photos, die er selbst bei einem Besuch in Mesewitz gemacht hat.
Dann stoße ich mit Hilfe von Frau Dr. Myer und Herrn Wille auf Dr. Harald Jenner. Er findet einen kurzen Eintrag im Aufnahmebuch Schleswig-Stadtfelds, nämlich dass Christine Jürgensen am 14. September 1944 aus Stadtfeld nach Meseritz in die „Heil- und Pflegeanstalt Obrawalde“ deportiert wurde. Eine Diagnose oder ein Befund zu ihrem Zustand fehlen.
Noch erschreckender ist folgende, begleitende Notiz:
Am Abend des 14. September 1944 wurde sie zusammen mit 700 Patienten der „Heil- und Pflegeanstalt am Stadtfeld“ und der „Landespflegeanstalt Hesterberg“ durch die Stadt zur Rampe des Güterbahnhofs geführt. Sie trugen an ihren Füßen Holzpantinen. Der Hintergrund war, dass die Kieler Uniklinik 1944 ausgebombt worden war; der Platz wurde benötigt.
Dies war der größte Patiententransport. Sie wurden in die Landesheil- und Pflegeanstalt Obrawalde bei Mesewitz in Pommern gebracht. Wussten sie, dass sie dort der Tod erwartete?
Am 22. September 1944, nur zehn Tage später, wurde Christine wurde in Mesewitz getötet.
Zu ihrem Tod kann ich nur hinzufügen, dass verschiedene Methoden angewandt wurden, um Krankenmorde auszuführen. Wenn es nicht drängte, ließen die Obrigkeiten die Patienten einfach verhungern, indem sie fleischlose, fettarme Kost einsetzten. Manchmal wurden die verschriebenen Beruhigungsmittel einfach erhöht, so dass die Patienten oft an Lungenentzündungen starben. Erschießungen waren auch üblich. Ich nehme an, dass wegen der großen Anzahl der eingelieferten Patienten und dem Zeitpunkt zum Ende des Krieges, die Wahl auf Gift fiel. Manchmal wurde den Familien ein Häufchen Asche zugesandt, angeblich die Asche des Verstorbenen, aber man weiß aus Berichten, dass die Asche der Toten nicht getrennt wurde.
Die Stolpersteinverlegung hat uns unsere Großtante Christine gegenwärtig gemacht. In unseren Gesprächen und Gedanken taucht sie wieder auf. Sie hat ihren Platz in unserer Familie wieder eingenommen - und das ist schön.
Dafür sind wir Herrn Demnig und seiner Initiative sehr dankbar.
Am 22. September 1944, nur zehn Tage später, wurde Christine wurde in Mesewitz getötet.
Zu ihrem Tod kann ich nur hinzufügen, dass verschiedene Methoden angewandt wurden, um Krankenmorde auszuführen. Wenn es nicht drängte, ließen die Obrigkeiten die Patienten einfach verhungern, indem sie fleischlose, fettarme Kost einsetzten. Manchmal wurden die verschriebenen Beruhigungsmittel einfach erhöht, so dass die Patienten oft an Lungenentzündungen starben. Erschießungen waren auch üblich. Ich nehme an, dass wegen der großen Anzahl der eingelieferten Patienten und dem Zeitpunkt zum Ende des Krieges, die Wahl auf Gift fiel. Manchmal wurde den Familien ein Häufchen Asche zugesandt, angeblich die Asche des Verstorbenen, aber man weiß aus Berichten, dass die Asche der Toten nicht getrennt wurde.
Die Stolpersteinverlegung hat uns unsere Großtante Christine gegenwärtig gemacht. In unseren Gesprächen und Gedanken taucht sie wieder auf. Sie hat ihren Platz in unserer Familie wieder eingenommen - und das ist schön.
Dafür sind wir Herrn Demnig und seiner Initiative sehr dankbar.
„Jeder Stolperstein erinnert an einen Menschen, gibt ihm den Namen zurück und wieder einen Platz in unserer Gesellschaft.“
Ein weiterer Stolperstein liegt in Wyk – vor dem Hotel Atlantis, Sandwall 29, für Elsa von Biela, geb Jacobsen, geboren 1877, deportiert 1942.
Hört das Interview zur Stolperstein Verlegung vom 6. Juni 2020 im Friisk Funk - ein bisschen Geduld, nach der Einleitung geht es gleich auf Deutsch weiter:
http://media.oksh.de/friiskfunk/2020/Juli/Stolperstein_live.mp3
Photos:Karin Richert (Portrait Gunter Demnig) Erk Roeloffs, Dr. Beate Meyer und Freunde
Hört das Interview zur Stolperstein Verlegung vom 6. Juni 2020 im Friisk Funk - ein bisschen Geduld, nach der Einleitung geht es gleich auf Deutsch weiter:
http://media.oksh.de/friiskfunk/2020/Juli/Stolperstein_live.mp3
Photos:Karin Richert (Portrait Gunter Demnig) Erk Roeloffs, Dr. Beate Meyer und Freunde
Christines Schicksal war der Anstoß für meinen dritten 'Föhr-Krimi' - Die Villa Blanke Hans. Als ich das Buch schrieb, war mir sehr wenig über ihr Schicksal bekannt - es ist also nicht Christines Geschichte, aber es ist ihr gewidmet. "Die Villa Blanke Hans" ist im Buchhandel für 12 Euro erhältlich.