Wie stehen die Chancen, in Australien einen Föhrer zu treffen, dem genau wie mir ein Bild vor den Augen schwebt, wenn er an die Insel Föhr denkt – das der Halligen, die zwischen Föhr und dem Festland in der Nordsee schwimmen?
Wie stehen die Chancen, in Australien einen Föhrer zu treffen, dem genau wie mir ein Bild vor den Augen schwebt, wenn er an die Insel Föhr denkt – das der Halligen, die zwischen Föhr und dem Festland in der Nordsee schwimmen? Mal verschwommen im Dunst, manchmal so klar, dass sie sich wie gestochen gegen den blauen Himmel erheben. Manchmal blitzt die Sonne in den blank-geputzten Fensterscheiben, als ob sie eine Nachricht senden wolle.
Und manchmal scheinen die Halligen wie eine Fata Morgana über dem Meer zu schwimmen – “Das ist ein Zeichen, dass das Wetter sich ändert,” pflegte meine Tante dann zu sagen.
Nicht nur einen Föhrer, sondern jemanden, der das gleiche Bild in sich trägt, habe ich hier, mitten in Melbourne, getroffen.
Und manchmal scheinen die Halligen wie eine Fata Morgana über dem Meer zu schwimmen – “Das ist ein Zeichen, dass das Wetter sich ändert,” pflegte meine Tante dann zu sagen.
Nicht nur einen Föhrer, sondern jemanden, der das gleiche Bild in sich trägt, habe ich hier, mitten in Melbourne, getroffen.
Es ist erst ein paar Wochen her, seit ich mich auf mein Fahrrad schwang und in Richtung Südstrand radelte. Queer durch die Wälder bis zum Nieblumer Wäldchen. Vorbei an der “Schietkuhle” (einer ehemaligen Müllhalde, die heute im Waldgebiet liegend, einen wunderbaren Kinderspielplatz ergibt) und dem Flugplatz, am Golfplatz entlang bis zum Grevelingstieg. Hier stoße ich auf die Siedlung Greveling, die Ende der 1950er Jahre am östlichsten Rande des Dorfes Nieblum entstand, in einer Niederung, die bei Hochwasser regelmäßig von Überflutung bedroht war.
Als die ersten stroh-gedeckten, weiß-getünchten Friesenhäuser hier gebaut wurden, schüttelten die Wyker die Köpfe – waren sie doch überzeugt, dass das Aufwerfen der ‘Warften’, der Erdhügel auf denen die Häuser errichtet wurden, oftmals mehr kostete als die Häuser selbst. Aber die Siedlung behauptete sich, wuchs und ist inzwischen durch einen Sommerdeich und Sandaufspülungen am Strand besser geschützt. Viele der Häuser sind als Ferienwohnungen beliebt.
Der Strand ist nur Minuten entfernt, direkt gegenüber liegt der Naturgolfplatz mit 27 Löchern, auf dem Fahrrad ist man schnell in Wyk oder einem der Dörfer. Und in einem dieser Friesenhäuser wohnen meine Freunde Harro und Di .
Es ist einer dieser traumhaften, lauen Sommerabende, und wir genießen die herrliche Sicht aufs Meer, wo die Halligen am Horizont träumen und die Seemöwen über dem Wasser kreisen. Der norddeutsche Sommer beschert uns lange, helle Nächte, und wir sitzen bis spät auf der Terrasse und klönen – über Föhr, unsere Kindheiten, Ausflüge zum Goting Kliff und unseren Lieblingscafes.
Wie ich wuchs Harro in Wyk auf Föhr auf, wie ich wanderte er nach Australien aus. Genau wie mich zieht es ihn immer wieder zurück nach Föhr.
In Harro und Di Brüggemanns Wohnzimmer in Donvale (Australien) hängt das Portrait eines alten Föhrers – des Moosfischer Jens Jensen, besser bekannt als Jens Moos. Auf dem Bild trägt er die gleiche Schippermütze, die auch mein Opa immer trug (auch Harros Opa ist auf einem Photo mit der Mütze zu sehen) und schmaucht eine Pfeife. Nachdenklich schaut er in die Ferne. Als ob er erwägt, vielleicht doch noch einmal das Ruder zu ergreifen und in den Horizont zu segeln. Ich erinnere mich an Jens Moos. Als er längst nicht mehr auf seinem Kutter in See stechen konnte, schob er krummbeinig sein Fahrrad durch Wyk. Seine Kleidung war immer noch die eines Seemannes und er trug eine große Glocke. Er war der Klingelmann geworden, der ‘wichtige’ Dinge ausrief, wie zum Beispiel eine Ausflugsfahrt auf der La Paloma zur Hallig Hooge. Die La Paloma war ein kleines weißes Motorboot, das mit bunten Wimpeln bedeckt und lauter Musik seine Passagiere an der Mittelbrücke einlud, um einen vergnüglichen Nachmittagsausflug – vielleicht zu einer der Halligen oder zu den Seehundsbänken - zu begehen.
Jens Moos gehörte zum Wyker Bild wie die alten Schipper, die sich täglich auf der Schipperbank trafen, um sich über Gott und die Welt auszulassen. Man duldete Jens Moos, auch als man sein brüchiges Genuschel fast nicht mehr verstehen konnte.
In Harro und Dis Haus steht auch ein Tisch, der mit den typischen Delfter Kacheln gefliest ist, die man auf Föhr in so vielen Friesenhäusern findet. Die Föhrer Walfänger des 16. Jahrhunderts brachten sie von erfolgreichen Reisen aus Holland zurück. Ein friesisches Wappen mit dem berühmten Spruch “Lewer duad us slav” hängt an der Wand.
Sofort fühle ich mich nach Föhr zurück versetzt, jedoch befinden wir uns praktisch am anderen Ende der Welt.
Statt aufs Fahrrad musste ich mich heute ins Auto setzen, und im steten Melbourner Verkehr fast eine Stunde fahren, um Donvale im östlichen Teil von Melbourne zu erreichen.
Donvale könnte der grünen Insel Föhr kaum unähnlicher sein!
Föhr ist flach: Marsch, Weiden und Äcker dominieren die Landschaft. Schmucke Dörfer, Deich und Strand sind neben den vielen Cafés, Restaurants, Gallerien und Boutiquen beliebte Ausflugsziele. Man braucht nie lange suchen, um einen Blick aufs Meer zu erheischen.
In der Stadt und den Dörfern halten die Autos Tempo 30 ein, außer auf zwei kurzen Strecken Landstraße, wo man auch mal 70kmh oder sogar mehr fahren darf. Auf der ganzen Insel gibt es drei Verkehrsampeln, hier scheine ich spätestens alle zwei Kilometer auf ein rotes Licht zu stoßen.
Ich fahre auf dem drei- bis vierspurigen Highway durch die Stadt Melbourne, die sich inzwischen über fast 10.000km2 ausbreitet, und über 4,5 Millionen Einwohner beherbergt. Im Vergleich hat die ganze Insel Föhr eine Größe von 82,82 km2 und knapp unter 10,000 ständigen Einwohnern.
Donvale liegt am Fuß der Dandenong Ranges, einer dicht bewaldeten Hügelkette, mit hohen Eukalyptusbäumen, Farnbäumen, die so hoch wie Häuser wachsen und einer Humusreichen Erde, die kräftiges Wachstum fördert. Harro und Dis Haus liegt an einem Abhang, sie haben ihren Garten in Terrassen abgestuft und herrlich bepflanzt. Überall stößt man auf überraschende Nischen und versteckte Ecken. Und Dis Mosaike. Di ist eine begabte Künstlerin, die ihre Mosaike in einem eigenen Studio auf ihrem Grundstück herstellt.
Am untersten Rand ihres Gartens rauscht ein Bach, auf der anderen Seite erhebt sich wieder ein grüner Hang.
Was bringt also einen Föhrer Jung nach Donvale?
Harro wurde am 16. Juli 1940 in Wyk geboren. Der Krieg war schon ausgebrochen und Harros Mutter, Maren, war zu ihren Eltern nach Wyk gezogen. Dort lebten sie bei Harros Großeltern, dem Richter Martin Schau und seiner Frau Margarethe, im “Haus Rungholt”.
Kaum erwähnt Harro den Namen, erinnere mich: Die imposante Villa stand am Sandwall, direkt am Strand und am Anfang der Kurpromenade. Die breite, nördliche Freitreppe, die damals noch in eine Lindenallee mündete, würde heute auf den Platz führen, auf dem die Stadt einladende Schachfelder aus Stein eingerichtet hat, auf denen man mit kniehohen Figuren spielen kann.
Häuser haben mich immer angezogen, und “Haus Rungholt” hatte eine Art mysteriösen Charms. Ich vermutete lange, dunkle Flure; Türen, die sich zu sonnendurchfluteten Zimmern öffneten; geheimnisvolle Ecken und Kammern … Ein Haus, in dem Kinder verstecken spielen konnten und in dem es einem nie langweilig wurde.
Harro zeigt mir Photos aus den 1940ern. Der Strand war damals ein schmaler Streifen, bei Hochflut kam es schon vor, dass das Wasser an die Promenade spülte. Er war von Muscheln und Steinchen übersät, und trotz des Krieges bauten die Leute Sandburgen, verzierten die mit Muschelbildern. Erst Anfang des 21. Jahrhunderts wurde der Strand durch Sandaufspülungen, die auch dem Inselschutz galten, verbreitert. Die ‘Kurpromenade’ war damals noch nicht asphaltiert.
“Wir haben immer am Strand gespielt– am Strand und am Hafen.
Ich, meine Schwester Hella, mein Freund Schorschi (Georg Heigl) und seine Schwester Karin. Auch Henning Boetius** war oft dabei,” erinnert Harro sich.
“Im Sommer haben wir geschwommen. Am Hafen haben wir die Schiffe beobachtet, damals gab es ja nur den alten Hafen. Die Fähranleger und der Seglerhafen – das war alles noch nicht da.”
Auch die Rungholtbrücke – heute “Seglerbrücke” genannt - stand noch nicht. Auf alten Photos sieht man Segelboote und auch Kutter dort in der Nähe des Strandes ankern.
“Autos gab es auch nicht viele – ich konnte mit meinem Roller die Straßen auf und abfahren. Aber unser Vater hatte ein Auto, das brachte er mit, wenn er uns besuchen kam.”
Harros Vater, der Wissenschaftler Erich Brüggemann, war schon zu Anfang des Krieges von der Firma Lurgi GmbH nach Japan gesandt worden und war nur selten zu Hause. So war Harro seinem Opa eng verbunden. “Opa hatte eine Modelleisenbahn, damit haben wir immer zusammen gespielt.”
Unvermeidlich war es, dass auch die Kinder den Krieg mit erlebten.
Zwei Monate vor Harros Geburt fiel der Bruder der Mutter. Harro wurde nach ihm benannt.
“Nachts gingen dann die Sirenen los und wir mussten alle in den Keller. Das war die englische Luftwaffe. Die flogen auf ihren Bombenangriffen gern über die Inseln, da wurden sie nicht so schnell entdeckt und konnten dann von der Ostsee her Berlin anfliegen. Wenn sie zurückkamen und Bomben übrig hatten, kam es auch vor, dass sie die über den Inseln abwarfen.”
Auf Föhr war es natürlich sicherer als in den deutschen Großstädten. Trotzdem wurde auch Föhr mehrere Male von Bomben getroffen, und zweimal wurden Dampfer der Wyker Dampfschiff Reederei direkt angegriffen.
Am 26. Juni 1944 fuhr Harro mit seiner Mutter und Schwester auf dem Dampfer “Föhr-Amrum” zur Nachbarinsel Amrum, um seinen Opa zu besuchen, der dort dienstlich zu tun hatte. Sein bester Freund Schorschi und dessen Mutter und Schwester waren auch dabei.
“Es war ein sonniger Sommerstag und wir spielten oben an Deck. Wir vergnügten usn, indem wir um den Schornstein herumrannten.
Auf einmal zersplitterte das Deck um uns herum. Das sehe ich heute noch. Der Kapitän kam aus seiner Kajüte heraus gerannt und schrie: Alle runter! Einige Schüsse trafen die Steuerkabine. Voller Schrecken liefen wir unter Deck und ich versteckte mich unter einem Tisch. Dann kam Schorschis Mutter herunter, und ihr Mantel war von Blut durchtränkt.”
Der Dampfer war am helllichten Tag von englischen Mosquitos (Kampfflugzeugen) angegriffen worden. Heinz Lorenzen berichtet von diesem Ereignis in seinem Buch “In Brand geschossen und auf Strand gesetzt” (2016)***.
“Es ist ein wunderbarer Nachmittag,” schreibt später ein (unbenannter) Passagier, “ruhig zieht das Schiff am Sandwall und am Südstrand vorbei. Auf der Backbordseite heben sich die Warften der Hallig Langeness aus leichtem grauen Dunst hervor. Wir genießen die schöne Fahrt und vergessen das große Elend des Krieges und den Tod, der auch Passagier des Schiffes ist.” (Ein junger, im Lazarett verstorbener Soldat wird an diesem Tag zu seiner Heimatinsel Amrum zurück transportiert.)
Die Föhr-Amrum, so berichtet Heinz Lorenzen, war gegen 16.45 Uhr aus dem Wyker Hafen abgefahren. Gegen 17.30 Uhr, kurz bevor der Dampfer sein Ziel, Wittdün auf Amrum, erreicht, fliegen zwei Flugzeuge im Steilflug den Dampfer an. Kapitän Nommensen übergibt das Ruder dem Matrosen John Doorentz, eilt aus dem Steuerhaus und fordert die Passagiere auf, unter Deck zu gehen.
In dem Moment, als er ins Steuerhaus zurückkehrt, erreichen die beiden Flieger den Dampfer und eröffnen Feuer.
Der Passagier beschreibt den Moment, als er sich zusammen mit zwei Bekannten, Hans Westerwald und Hans Bohde gerade zu einem Bier in die Restauration begeben hat, und “mit einem Mal die Hölle losgeht. Auf dem Deck über uns erfolgt eine Detonation und zugleich setzt eine wüste Schießerei ein. Im Niedergang und in der Kajüte krepieren die Zwei Zentimeter Geschosse … und lösen im ersten Moment einen lähmenden Schrecken aus.”
Kapitän Wilhelm Nommensen wird durch einen Kopf-, Brust und Bauchschuss tödlich verletzt. Obwohl der Matrose John Dorentz von einer Reihe von Metall- und Holzsplittern getroffen worden ist, bleibt er bei Besinnung. Er stellt schnell fest, dass das Hauptruder vollkommen zerstört ist, aber das Handruder noch funktioniert. Mit Hilfe des herbei geeilten Steuermannes, Johannes Ingwersen, gelingt es, den Dampfer an die Landungsbrücke in Wittdün zu manövrieren, wo auch schnell Hilfe eintrifft.
An Deck ist auch Schorschis Mutter, Elke Heigl, schwer verletzt worden.
Unter Deck sind Hans Westerwald, Hans Bohde und der unbenannte Erzähler damit beschäftigt die Verwundeten notdürftig zu verbinden (darunter den Heizer Peter Johnsen und drei Passagiere), als eine junge Frau mit ihren Kindern in die Kabine kommt.
“Der Rücken ihres Mantels ist ein großer Blutfleck. … An der Spitze beider Schulterblätter zeigen sich Einschüsse, die, wie auch der Rücken zum Teil mit Blut verkrustet sind. Wir legen einen großen Mullverband an. Die junge Frau ist überaus tapfer.” (Es ist Schorschis Mutter, Elke Heigl, die schwer verwundet wurde.) “Auch bei ihr erfolgt kein Ton der Klage und des Jammerns, im Gegenteil, sie tröstet noch ihren Jungen, der rührend um seine Mutter besorgt ist.”
Schorschi Vater war nicht lange zuvor im Krieg gefallen, nun müssen die Kinder um ihre Mutter bangen. Glücklicherweise überlebt sie aber und erholt sich, obwohl zwei Geschosssplitter in der Lunge stecken geblieben sind und ihr lange Schmerzen bereiten.
Schorschi und seine Mutter leben heute noch auf der Insel Föhr.
Wie viel Glück die beiden Familien (Brüggemann und Heigl) hatten, als die Flugzeuge den Dampfer angriffen, geht aus der Beschreibung des berichtenden Passagiers hervor.
“Ich begebe mich nun an Deck, wo es doll aussieht. Vor dem Ausgang der Vorderkajüte tropft ununterbrochen Blut von der Decke und weiter im Gang Wasser. Hans Bohde, der schon früher auf Deck gegangen ist, kommt vom Oberdeck und sagt, er hätte den Kapitän, der mit zerschmettertem Schädel im Steuerhaus liegt, mit einer Persenning zugedeckt. Bohde hat dem Mann am Steuer einen großen Teakholzsplitter aus dem Nasenbein, in Höhe des Auges, heraugezogen. Der Rudergänger hat vom Gesäß bis zur Ferse acht Geschosssplitter erhalten, von denen er in der Aufregung zuerst nichts gespürt hat. … Eine Doppelbank, auf der die vorhin zwei erwähnten Frauen mit ihren Kindern und wir Drei gesessen haben, ist wie durchgehakt von Geschossen. … Decksaufbauten und Schornstein weisen zahlreiche Treffer auf.”
Man zählt später 87 Durchschüsse.
Noch etwas verbindet Harro Brüggemann und mich: ‘Hans Bohde’ war mein Großvater – der Vater meines Vaters! Wenn ich mich richtig erinnere, konnte er kein Blut sehen! Ich schreibe gleich mal an meine Tante, und frage nach. Sie erzählt:
“Wir wußten natürlich, daß unser Vater auf dem Dampfer war als dieser beschossen wurde, aber Einzelheiten hat man vor uns Kindern geheim gehalten. Er war ja mit Hans Westerwald und einem Hans Hansen unterwegs nach Amrum. Was wollten sie da
und wer war Hans Hansen? Als im Juli 1944 gegen 19 Uhr die Sirenen heulten und es wie ein Lauffeuer durch Wyk ging 'die Föhr-Amrum' ist beschossen worden” spielte ich (10 Jahre alt) bei uns im Hof. Tante Alma rief noch: dass ihr nicht an den Strand geht, da war ich schon losgerannt und habe das schreckliche Geschehen vom Flunk am Strandhotel aus beobachtet. Am nächsten Tag lag die zerschossene und ausgebrannte 'Föhr-Amrum' im Hafen am Zollhaus. Das Deck war übersät mit Sachen aus den Koffern. Kinder-
schuhe, Spielzeug und Bekleidung. Dieses ganze Geschehen hat mich mein Leben lang begleitet. Und Lucie Bohde (die erste Frau meines Onkels, Gerhard Bohde; Verf.) war eine Heldin, daß sie diesen einen Soldaten, der schwerst verletzt war, gesund gepflegt hat.”
Ende 1948 begaben sich Harro und Hella zusammen mit ihrer Mutter auf eine weitaus größere Reise – nach Australien. Der Vater war schon 18 Monate zuvor ausgewandert. Nach dem Krieg wurden deutsche Wissenschaftler und Techniker unter dem ESTEA Scheme (“Employment of Scientific and Technical Enemy Aliens”) als Teil der Reparation, die Deutschland den Alliierten schuldete, ins Ausland geholt.
“Ich erinnere mich noch gut, dass Opa uns bis Dagebüll brachte. Dort verabschiedeten wir uns.
1958 ist er gestorben, ich habe ihn nie wieder gesehen.”
Eine Person von der Föhrer Heimat begleitet die kleine Familie aber: Annie Nielsen, von den Kindern liebevoll “Niel” genannt, die schon von Anfang an als Kinderfrau bei den Brüggemanns tätig gewesen war. Sie betreute die Familie auch in Australien und blieb bis 1965 bei ihnen. Dann kehrte sie nach Deutschland zurück.
Wenn Harro von Annie Nielsen spricht, leuchten seine Augen auf. Hoffnungsvoll schaut er mich an – hofft in mir eine Verwandte seiner ‘Niel’ gefunden zu haben. Der Vater meines Opas stammte aus Süderlügum, einem Ort an der dänischen Grenze. Annie Nielsen kam von einem Hof namens Langacker in der Nähe von Neustadt.
Die Reise nach Australien war 1948 nicht einfach.
“Im Zug fuhren wir durch Hamburg. Da sahen wir die Trümmer von den Bombenanschlägen - es war furchtbar, unglaublich. Wir sollten von England aus nach Australien fliegen und wir mussten drei Wochen in London warten. Endlich bestiegen wir eine Maschine der ANA – der Australian National Airways. Sechs oder sieben Tage dauerte der Flug. Damals konnten die Maschinen ja nur tagsüber fliegen, abends landeten sie und wir übernachteten in Hotels. Wir flogen über Tripoli, Kairo, Bahrain, Ceylon, Batavia (heute: Jakarta) und Darwin nach Melbourne. Zwei Jahre später stürzte das Flugzeug über Westaustralien ab und alle 28 Passagiere kamen um.”
Harros Vater schrieb in Australien seine Doktorarbeit – zum dritten Mal. Die erste Niederschrift verbrannte, als das Haus in Frankfurt, wo der Vater lebte, ausgebombt wurde.
Die zweite Arbeit versank im Meer, als das Schiff auf dem Harros Vater von Japan nach Deutschland zurückkehrte, von einem Torpedo getroffen wurde und sank. Erst in Australien gelang es ihm, seine Arbeit einzureichen und so seinen Doktortitel zu gewinnen.
“War ja nicht so schlimm, er musste es ja nur alles noch mal aufschreiben,” äußert Harro sich lakonisch. Typisch Ingenieur!
Harro kehrte erst 1964 das erste Mal nach Deutschland zurück. Inzwischen hatte er schon sein Ingenieurstudium in Melbourne abgeschlossen.
In Wyk hatte er zwei Jahre lang die Volksschule in der Süderstraße besucht. In Melbourne besuchte er eine Grundschule in dem Stadtteil Sandringham. “Ich konnte kein Wort Englisch. Es war beängstigend und sehr verwirrend, nichts zu verstehen. Aber nach vier Monaten konnte ich dann Englisch!”
Die Brüggemanns trafen sich oft mit anderen deutschen Familien, deren Väter ebenfalls als Wissenschaftler unter dem ESTEA Scheme nach Melbourne gekommen waren. Die Freundschaften, die die Kinder damals schlossen, halten bis heute an. Sein Freund Ekkehard, den er in Australien kennenlernte, lebt heute wieder in Deutschland. Wenn Harro und Di Deutschland besuchen, treffen sie sich mit Ekkehard und seiner Frau, Lilian.
“Ich kann mich nicht erinnern, dass wir von den australischen Kindern gemobbt wurden, wie andere es berichten. Oder dass wir ‘Nazis’ gerufen und verprügelt wurden,” sagt Harro.
“Oh, Harro, du hattest immer schon so eine sonnige Natur!” wirft Harros australische Frau Di ein. “Du hast das einfach nicht gemerkt!”
Obwohl Harros Eltern 1975 nach Deutschland zurückkehrten, um ihren Ruhestand in der Heimat und in der Nähe ihrer Tochter und Enkelkinder zu verbringen, Harros Schwester Hella hatte einen Schweizer geheiratet, und sich am Chiemsee niederließen, kehrte Harro nach Australien zurück und arbeitete als technischer Ingenieur für die PMG – Postmaster General –, bis er sich 1974 zusammen mit drei Partnern selbstständig machte.
Doch immer wieder kehrt er nach Wyk zurück.
“Das erste Mal brachte ich Di mit, das war mitten im Winter und die Nordsee war vollkommen von Eis bedeckt! Aber die Fährschiffe konnten da durchbrechen.”
Einmal im Jahr besuchen sie die Insel. Am liebsten wohnen sie dann in einem der strohgedeckten Friesenhäuser in Greveling. Hella stößt dann zu ihnen, sowie der Kindheitsfreund Ekkehard und der Cousin Erich, der in München lebt. Und Schorschi und seine Frau Renate sind regelmäßige Besucher. Georg Heigl studierte Medizin und wurde Arzt. Er lebt heute auch auf Föhr. Seine Mutter überlebte die schwere Verwundung, und trotz ihres hohen Alters – 100 Jahre – lebt sie immer noch in ihrem eigenen Haus am Südstrand.
Nach dem Krieg heiratete Frau Heigl erneut. Und an Schorschis Stiefvater, Hern Kähler, kann ich mich sehr gut erinnern. Damals führte meine Tante das Lebensmittelgeschäft meiner Eltern am Südstrand. Jeden Abend kurz vor 18 Uhr kam Herr Kähler angeschritten. Er hatte einen besonders forschen Gang. Auf seinem Weg nach Hause von seinem wichtigen Posten im Nordsee Sanatorium, schaute er kurz in den Laden, um noch ein paar kleine Einkäufe zu tätigen. Er schien mir immer fröhlich und humorvoll – ein Mann mit ausladenden Gebärden. Schorschis Mutter war schon früher am Tag da gewesen. Eine kleine, gut gekleidete Frau war sie – eine richtige Dame, die von meiner Tante mit Respekt bedient wurde.
Ich bin erstaunt: durch eine Zufallsbegegnung (Harro besuchte mit zwei anderen Deutschen unsere Ausstellung) weben sich Fäden die auf die Insel Föhr zurückreichen.
“Ich bin ein Föhrfan,” schwärmt auch Di. “Immer erzähle ich meinen Freundinnen von Föhr, und nächstes Jahr wollen zwei mitkommen. Wir machen lange Spaziergänge am Strand, oder fahren auf unseren Fahrrädern über die Dörfer. Und abends gehen wir gern in die herrlichen Friesenkirchen und hören uns die Konzerte an. Regen und Wind stören uns nicht, man muss sich nur richtig anziehen!”
Als ich sie in ihrem Ferienhaus besuche, serviert Di ein Fischabendessen, dem es gelingt, irgendwie die australische Küche mit der Deutschen zu verbinden.
“Und was ist es, dass dich immer wieder nach Föhr zieht?” frage ich Harro. “Föhr ist in meinem Blut”, antwortet er schlicht. In seinen Augen ist ein Audruck ähnlich dem des Moosfischers Jens Jensen.
Harro hat das Wort ‘Hallig’ in seine email Adresse inkorporiert.
“Das ist das Bild, das sich immer vor Augen habe, wenn ich an Föhr denke. Der Blick übers Meer auf die Halligen.”
*Rungholt ist der Name der legendären Insel, die in der Ersten Groten Mandränke (Sturmflut) am 15. und 16. Januar 1362 sank. Den Erzählungen nach überlebte nur eine einzige Einwohnerin, die gerade Familie auf dem Festland besuchte. Viele Legenden umgeben die Geschichte der Insel, z.B. wurde auch behauptet, dass die Rungholter reiche Kaufleute waren, die Gottes Zorn erweckten, so dass die Insel ähnlich dem “Turmbau zu Babel” zerstört wurde!
Lange war es unsicher, ob die Insel überhaupt jemals bestanden habe. Aber nach jahrzehntelangen Forschungen entdeckte der Nordstander Andreas Busch endlich Spuren Rungholts im Wattenmeer.
Mehr darüber lesen: Rungholt
** Henning Boetius ist ein Autor, der auf Föhr aufwuchs und für seien Romanbiographien und Krimis bekannt ist. Sein Roman "Phönix aus der Asche" bietet eine glaubwürdige Erklärung für den legendären Untergang des Luftschiffs Hindenburg. Boetius' Vater, Eduard Boetius, war Ruderführer auf der Hindenburg zur Zeit des Unglücks. Mehr lesen: Henning Boetius
*** Heinz Lorenzen, In Brand geschossen und auf Strand gesetzt
Bilder: Haus Rungholt etwa 1940 (Harros Opa, Martin Schau im Vordergrund)
Haus Rungholt 2016, (Harro Brüggemann im Vordergrund)
Als die ersten stroh-gedeckten, weiß-getünchten Friesenhäuser hier gebaut wurden, schüttelten die Wyker die Köpfe – waren sie doch überzeugt, dass das Aufwerfen der ‘Warften’, der Erdhügel auf denen die Häuser errichtet wurden, oftmals mehr kostete als die Häuser selbst. Aber die Siedlung behauptete sich, wuchs und ist inzwischen durch einen Sommerdeich und Sandaufspülungen am Strand besser geschützt. Viele der Häuser sind als Ferienwohnungen beliebt.
Der Strand ist nur Minuten entfernt, direkt gegenüber liegt der Naturgolfplatz mit 27 Löchern, auf dem Fahrrad ist man schnell in Wyk oder einem der Dörfer. Und in einem dieser Friesenhäuser wohnen meine Freunde Harro und Di .
Es ist einer dieser traumhaften, lauen Sommerabende, und wir genießen die herrliche Sicht aufs Meer, wo die Halligen am Horizont träumen und die Seemöwen über dem Wasser kreisen. Der norddeutsche Sommer beschert uns lange, helle Nächte, und wir sitzen bis spät auf der Terrasse und klönen – über Föhr, unsere Kindheiten, Ausflüge zum Goting Kliff und unseren Lieblingscafes.
Wie ich wuchs Harro in Wyk auf Föhr auf, wie ich wanderte er nach Australien aus. Genau wie mich zieht es ihn immer wieder zurück nach Föhr.
In Harro und Di Brüggemanns Wohnzimmer in Donvale (Australien) hängt das Portrait eines alten Föhrers – des Moosfischer Jens Jensen, besser bekannt als Jens Moos. Auf dem Bild trägt er die gleiche Schippermütze, die auch mein Opa immer trug (auch Harros Opa ist auf einem Photo mit der Mütze zu sehen) und schmaucht eine Pfeife. Nachdenklich schaut er in die Ferne. Als ob er erwägt, vielleicht doch noch einmal das Ruder zu ergreifen und in den Horizont zu segeln. Ich erinnere mich an Jens Moos. Als er längst nicht mehr auf seinem Kutter in See stechen konnte, schob er krummbeinig sein Fahrrad durch Wyk. Seine Kleidung war immer noch die eines Seemannes und er trug eine große Glocke. Er war der Klingelmann geworden, der ‘wichtige’ Dinge ausrief, wie zum Beispiel eine Ausflugsfahrt auf der La Paloma zur Hallig Hooge. Die La Paloma war ein kleines weißes Motorboot, das mit bunten Wimpeln bedeckt und lauter Musik seine Passagiere an der Mittelbrücke einlud, um einen vergnüglichen Nachmittagsausflug – vielleicht zu einer der Halligen oder zu den Seehundsbänken - zu begehen.
Jens Moos gehörte zum Wyker Bild wie die alten Schipper, die sich täglich auf der Schipperbank trafen, um sich über Gott und die Welt auszulassen. Man duldete Jens Moos, auch als man sein brüchiges Genuschel fast nicht mehr verstehen konnte.
In Harro und Dis Haus steht auch ein Tisch, der mit den typischen Delfter Kacheln gefliest ist, die man auf Föhr in so vielen Friesenhäusern findet. Die Föhrer Walfänger des 16. Jahrhunderts brachten sie von erfolgreichen Reisen aus Holland zurück. Ein friesisches Wappen mit dem berühmten Spruch “Lewer duad us slav” hängt an der Wand.
Sofort fühle ich mich nach Föhr zurück versetzt, jedoch befinden wir uns praktisch am anderen Ende der Welt.
Statt aufs Fahrrad musste ich mich heute ins Auto setzen, und im steten Melbourner Verkehr fast eine Stunde fahren, um Donvale im östlichen Teil von Melbourne zu erreichen.
Donvale könnte der grünen Insel Föhr kaum unähnlicher sein!
Föhr ist flach: Marsch, Weiden und Äcker dominieren die Landschaft. Schmucke Dörfer, Deich und Strand sind neben den vielen Cafés, Restaurants, Gallerien und Boutiquen beliebte Ausflugsziele. Man braucht nie lange suchen, um einen Blick aufs Meer zu erheischen.
In der Stadt und den Dörfern halten die Autos Tempo 30 ein, außer auf zwei kurzen Strecken Landstraße, wo man auch mal 70kmh oder sogar mehr fahren darf. Auf der ganzen Insel gibt es drei Verkehrsampeln, hier scheine ich spätestens alle zwei Kilometer auf ein rotes Licht zu stoßen.
Ich fahre auf dem drei- bis vierspurigen Highway durch die Stadt Melbourne, die sich inzwischen über fast 10.000km2 ausbreitet, und über 4,5 Millionen Einwohner beherbergt. Im Vergleich hat die ganze Insel Föhr eine Größe von 82,82 km2 und knapp unter 10,000 ständigen Einwohnern.
Donvale liegt am Fuß der Dandenong Ranges, einer dicht bewaldeten Hügelkette, mit hohen Eukalyptusbäumen, Farnbäumen, die so hoch wie Häuser wachsen und einer Humusreichen Erde, die kräftiges Wachstum fördert. Harro und Dis Haus liegt an einem Abhang, sie haben ihren Garten in Terrassen abgestuft und herrlich bepflanzt. Überall stößt man auf überraschende Nischen und versteckte Ecken. Und Dis Mosaike. Di ist eine begabte Künstlerin, die ihre Mosaike in einem eigenen Studio auf ihrem Grundstück herstellt.
Am untersten Rand ihres Gartens rauscht ein Bach, auf der anderen Seite erhebt sich wieder ein grüner Hang.
Was bringt also einen Föhrer Jung nach Donvale?
Harro wurde am 16. Juli 1940 in Wyk geboren. Der Krieg war schon ausgebrochen und Harros Mutter, Maren, war zu ihren Eltern nach Wyk gezogen. Dort lebten sie bei Harros Großeltern, dem Richter Martin Schau und seiner Frau Margarethe, im “Haus Rungholt”.
Kaum erwähnt Harro den Namen, erinnere mich: Die imposante Villa stand am Sandwall, direkt am Strand und am Anfang der Kurpromenade. Die breite, nördliche Freitreppe, die damals noch in eine Lindenallee mündete, würde heute auf den Platz führen, auf dem die Stadt einladende Schachfelder aus Stein eingerichtet hat, auf denen man mit kniehohen Figuren spielen kann.
Häuser haben mich immer angezogen, und “Haus Rungholt” hatte eine Art mysteriösen Charms. Ich vermutete lange, dunkle Flure; Türen, die sich zu sonnendurchfluteten Zimmern öffneten; geheimnisvolle Ecken und Kammern … Ein Haus, in dem Kinder verstecken spielen konnten und in dem es einem nie langweilig wurde.
Harro zeigt mir Photos aus den 1940ern. Der Strand war damals ein schmaler Streifen, bei Hochflut kam es schon vor, dass das Wasser an die Promenade spülte. Er war von Muscheln und Steinchen übersät, und trotz des Krieges bauten die Leute Sandburgen, verzierten die mit Muschelbildern. Erst Anfang des 21. Jahrhunderts wurde der Strand durch Sandaufspülungen, die auch dem Inselschutz galten, verbreitert. Die ‘Kurpromenade’ war damals noch nicht asphaltiert.
“Wir haben immer am Strand gespielt– am Strand und am Hafen.
Ich, meine Schwester Hella, mein Freund Schorschi (Georg Heigl) und seine Schwester Karin. Auch Henning Boetius** war oft dabei,” erinnert Harro sich.
“Im Sommer haben wir geschwommen. Am Hafen haben wir die Schiffe beobachtet, damals gab es ja nur den alten Hafen. Die Fähranleger und der Seglerhafen – das war alles noch nicht da.”
Auch die Rungholtbrücke – heute “Seglerbrücke” genannt - stand noch nicht. Auf alten Photos sieht man Segelboote und auch Kutter dort in der Nähe des Strandes ankern.
“Autos gab es auch nicht viele – ich konnte mit meinem Roller die Straßen auf und abfahren. Aber unser Vater hatte ein Auto, das brachte er mit, wenn er uns besuchen kam.”
Harros Vater, der Wissenschaftler Erich Brüggemann, war schon zu Anfang des Krieges von der Firma Lurgi GmbH nach Japan gesandt worden und war nur selten zu Hause. So war Harro seinem Opa eng verbunden. “Opa hatte eine Modelleisenbahn, damit haben wir immer zusammen gespielt.”
Unvermeidlich war es, dass auch die Kinder den Krieg mit erlebten.
Zwei Monate vor Harros Geburt fiel der Bruder der Mutter. Harro wurde nach ihm benannt.
“Nachts gingen dann die Sirenen los und wir mussten alle in den Keller. Das war die englische Luftwaffe. Die flogen auf ihren Bombenangriffen gern über die Inseln, da wurden sie nicht so schnell entdeckt und konnten dann von der Ostsee her Berlin anfliegen. Wenn sie zurückkamen und Bomben übrig hatten, kam es auch vor, dass sie die über den Inseln abwarfen.”
Auf Föhr war es natürlich sicherer als in den deutschen Großstädten. Trotzdem wurde auch Föhr mehrere Male von Bomben getroffen, und zweimal wurden Dampfer der Wyker Dampfschiff Reederei direkt angegriffen.
Am 26. Juni 1944 fuhr Harro mit seiner Mutter und Schwester auf dem Dampfer “Föhr-Amrum” zur Nachbarinsel Amrum, um seinen Opa zu besuchen, der dort dienstlich zu tun hatte. Sein bester Freund Schorschi und dessen Mutter und Schwester waren auch dabei.
“Es war ein sonniger Sommerstag und wir spielten oben an Deck. Wir vergnügten usn, indem wir um den Schornstein herumrannten.
Auf einmal zersplitterte das Deck um uns herum. Das sehe ich heute noch. Der Kapitän kam aus seiner Kajüte heraus gerannt und schrie: Alle runter! Einige Schüsse trafen die Steuerkabine. Voller Schrecken liefen wir unter Deck und ich versteckte mich unter einem Tisch. Dann kam Schorschis Mutter herunter, und ihr Mantel war von Blut durchtränkt.”
Der Dampfer war am helllichten Tag von englischen Mosquitos (Kampfflugzeugen) angegriffen worden. Heinz Lorenzen berichtet von diesem Ereignis in seinem Buch “In Brand geschossen und auf Strand gesetzt” (2016)***.
“Es ist ein wunderbarer Nachmittag,” schreibt später ein (unbenannter) Passagier, “ruhig zieht das Schiff am Sandwall und am Südstrand vorbei. Auf der Backbordseite heben sich die Warften der Hallig Langeness aus leichtem grauen Dunst hervor. Wir genießen die schöne Fahrt und vergessen das große Elend des Krieges und den Tod, der auch Passagier des Schiffes ist.” (Ein junger, im Lazarett verstorbener Soldat wird an diesem Tag zu seiner Heimatinsel Amrum zurück transportiert.)
Die Föhr-Amrum, so berichtet Heinz Lorenzen, war gegen 16.45 Uhr aus dem Wyker Hafen abgefahren. Gegen 17.30 Uhr, kurz bevor der Dampfer sein Ziel, Wittdün auf Amrum, erreicht, fliegen zwei Flugzeuge im Steilflug den Dampfer an. Kapitän Nommensen übergibt das Ruder dem Matrosen John Doorentz, eilt aus dem Steuerhaus und fordert die Passagiere auf, unter Deck zu gehen.
In dem Moment, als er ins Steuerhaus zurückkehrt, erreichen die beiden Flieger den Dampfer und eröffnen Feuer.
Der Passagier beschreibt den Moment, als er sich zusammen mit zwei Bekannten, Hans Westerwald und Hans Bohde gerade zu einem Bier in die Restauration begeben hat, und “mit einem Mal die Hölle losgeht. Auf dem Deck über uns erfolgt eine Detonation und zugleich setzt eine wüste Schießerei ein. Im Niedergang und in der Kajüte krepieren die Zwei Zentimeter Geschosse … und lösen im ersten Moment einen lähmenden Schrecken aus.”
Kapitän Wilhelm Nommensen wird durch einen Kopf-, Brust und Bauchschuss tödlich verletzt. Obwohl der Matrose John Dorentz von einer Reihe von Metall- und Holzsplittern getroffen worden ist, bleibt er bei Besinnung. Er stellt schnell fest, dass das Hauptruder vollkommen zerstört ist, aber das Handruder noch funktioniert. Mit Hilfe des herbei geeilten Steuermannes, Johannes Ingwersen, gelingt es, den Dampfer an die Landungsbrücke in Wittdün zu manövrieren, wo auch schnell Hilfe eintrifft.
An Deck ist auch Schorschis Mutter, Elke Heigl, schwer verletzt worden.
Unter Deck sind Hans Westerwald, Hans Bohde und der unbenannte Erzähler damit beschäftigt die Verwundeten notdürftig zu verbinden (darunter den Heizer Peter Johnsen und drei Passagiere), als eine junge Frau mit ihren Kindern in die Kabine kommt.
“Der Rücken ihres Mantels ist ein großer Blutfleck. … An der Spitze beider Schulterblätter zeigen sich Einschüsse, die, wie auch der Rücken zum Teil mit Blut verkrustet sind. Wir legen einen großen Mullverband an. Die junge Frau ist überaus tapfer.” (Es ist Schorschis Mutter, Elke Heigl, die schwer verwundet wurde.) “Auch bei ihr erfolgt kein Ton der Klage und des Jammerns, im Gegenteil, sie tröstet noch ihren Jungen, der rührend um seine Mutter besorgt ist.”
Schorschi Vater war nicht lange zuvor im Krieg gefallen, nun müssen die Kinder um ihre Mutter bangen. Glücklicherweise überlebt sie aber und erholt sich, obwohl zwei Geschosssplitter in der Lunge stecken geblieben sind und ihr lange Schmerzen bereiten.
Schorschi und seine Mutter leben heute noch auf der Insel Föhr.
Wie viel Glück die beiden Familien (Brüggemann und Heigl) hatten, als die Flugzeuge den Dampfer angriffen, geht aus der Beschreibung des berichtenden Passagiers hervor.
“Ich begebe mich nun an Deck, wo es doll aussieht. Vor dem Ausgang der Vorderkajüte tropft ununterbrochen Blut von der Decke und weiter im Gang Wasser. Hans Bohde, der schon früher auf Deck gegangen ist, kommt vom Oberdeck und sagt, er hätte den Kapitän, der mit zerschmettertem Schädel im Steuerhaus liegt, mit einer Persenning zugedeckt. Bohde hat dem Mann am Steuer einen großen Teakholzsplitter aus dem Nasenbein, in Höhe des Auges, heraugezogen. Der Rudergänger hat vom Gesäß bis zur Ferse acht Geschosssplitter erhalten, von denen er in der Aufregung zuerst nichts gespürt hat. … Eine Doppelbank, auf der die vorhin zwei erwähnten Frauen mit ihren Kindern und wir Drei gesessen haben, ist wie durchgehakt von Geschossen. … Decksaufbauten und Schornstein weisen zahlreiche Treffer auf.”
Man zählt später 87 Durchschüsse.
Noch etwas verbindet Harro Brüggemann und mich: ‘Hans Bohde’ war mein Großvater – der Vater meines Vaters! Wenn ich mich richtig erinnere, konnte er kein Blut sehen! Ich schreibe gleich mal an meine Tante, und frage nach. Sie erzählt:
“Wir wußten natürlich, daß unser Vater auf dem Dampfer war als dieser beschossen wurde, aber Einzelheiten hat man vor uns Kindern geheim gehalten. Er war ja mit Hans Westerwald und einem Hans Hansen unterwegs nach Amrum. Was wollten sie da
und wer war Hans Hansen? Als im Juli 1944 gegen 19 Uhr die Sirenen heulten und es wie ein Lauffeuer durch Wyk ging 'die Föhr-Amrum' ist beschossen worden” spielte ich (10 Jahre alt) bei uns im Hof. Tante Alma rief noch: dass ihr nicht an den Strand geht, da war ich schon losgerannt und habe das schreckliche Geschehen vom Flunk am Strandhotel aus beobachtet. Am nächsten Tag lag die zerschossene und ausgebrannte 'Föhr-Amrum' im Hafen am Zollhaus. Das Deck war übersät mit Sachen aus den Koffern. Kinder-
schuhe, Spielzeug und Bekleidung. Dieses ganze Geschehen hat mich mein Leben lang begleitet. Und Lucie Bohde (die erste Frau meines Onkels, Gerhard Bohde; Verf.) war eine Heldin, daß sie diesen einen Soldaten, der schwerst verletzt war, gesund gepflegt hat.”
Ende 1948 begaben sich Harro und Hella zusammen mit ihrer Mutter auf eine weitaus größere Reise – nach Australien. Der Vater war schon 18 Monate zuvor ausgewandert. Nach dem Krieg wurden deutsche Wissenschaftler und Techniker unter dem ESTEA Scheme (“Employment of Scientific and Technical Enemy Aliens”) als Teil der Reparation, die Deutschland den Alliierten schuldete, ins Ausland geholt.
“Ich erinnere mich noch gut, dass Opa uns bis Dagebüll brachte. Dort verabschiedeten wir uns.
1958 ist er gestorben, ich habe ihn nie wieder gesehen.”
Eine Person von der Föhrer Heimat begleitet die kleine Familie aber: Annie Nielsen, von den Kindern liebevoll “Niel” genannt, die schon von Anfang an als Kinderfrau bei den Brüggemanns tätig gewesen war. Sie betreute die Familie auch in Australien und blieb bis 1965 bei ihnen. Dann kehrte sie nach Deutschland zurück.
Wenn Harro von Annie Nielsen spricht, leuchten seine Augen auf. Hoffnungsvoll schaut er mich an – hofft in mir eine Verwandte seiner ‘Niel’ gefunden zu haben. Der Vater meines Opas stammte aus Süderlügum, einem Ort an der dänischen Grenze. Annie Nielsen kam von einem Hof namens Langacker in der Nähe von Neustadt.
Die Reise nach Australien war 1948 nicht einfach.
“Im Zug fuhren wir durch Hamburg. Da sahen wir die Trümmer von den Bombenanschlägen - es war furchtbar, unglaublich. Wir sollten von England aus nach Australien fliegen und wir mussten drei Wochen in London warten. Endlich bestiegen wir eine Maschine der ANA – der Australian National Airways. Sechs oder sieben Tage dauerte der Flug. Damals konnten die Maschinen ja nur tagsüber fliegen, abends landeten sie und wir übernachteten in Hotels. Wir flogen über Tripoli, Kairo, Bahrain, Ceylon, Batavia (heute: Jakarta) und Darwin nach Melbourne. Zwei Jahre später stürzte das Flugzeug über Westaustralien ab und alle 28 Passagiere kamen um.”
Harros Vater schrieb in Australien seine Doktorarbeit – zum dritten Mal. Die erste Niederschrift verbrannte, als das Haus in Frankfurt, wo der Vater lebte, ausgebombt wurde.
Die zweite Arbeit versank im Meer, als das Schiff auf dem Harros Vater von Japan nach Deutschland zurückkehrte, von einem Torpedo getroffen wurde und sank. Erst in Australien gelang es ihm, seine Arbeit einzureichen und so seinen Doktortitel zu gewinnen.
“War ja nicht so schlimm, er musste es ja nur alles noch mal aufschreiben,” äußert Harro sich lakonisch. Typisch Ingenieur!
Harro kehrte erst 1964 das erste Mal nach Deutschland zurück. Inzwischen hatte er schon sein Ingenieurstudium in Melbourne abgeschlossen.
In Wyk hatte er zwei Jahre lang die Volksschule in der Süderstraße besucht. In Melbourne besuchte er eine Grundschule in dem Stadtteil Sandringham. “Ich konnte kein Wort Englisch. Es war beängstigend und sehr verwirrend, nichts zu verstehen. Aber nach vier Monaten konnte ich dann Englisch!”
Die Brüggemanns trafen sich oft mit anderen deutschen Familien, deren Väter ebenfalls als Wissenschaftler unter dem ESTEA Scheme nach Melbourne gekommen waren. Die Freundschaften, die die Kinder damals schlossen, halten bis heute an. Sein Freund Ekkehard, den er in Australien kennenlernte, lebt heute wieder in Deutschland. Wenn Harro und Di Deutschland besuchen, treffen sie sich mit Ekkehard und seiner Frau, Lilian.
“Ich kann mich nicht erinnern, dass wir von den australischen Kindern gemobbt wurden, wie andere es berichten. Oder dass wir ‘Nazis’ gerufen und verprügelt wurden,” sagt Harro.
“Oh, Harro, du hattest immer schon so eine sonnige Natur!” wirft Harros australische Frau Di ein. “Du hast das einfach nicht gemerkt!”
Obwohl Harros Eltern 1975 nach Deutschland zurückkehrten, um ihren Ruhestand in der Heimat und in der Nähe ihrer Tochter und Enkelkinder zu verbringen, Harros Schwester Hella hatte einen Schweizer geheiratet, und sich am Chiemsee niederließen, kehrte Harro nach Australien zurück und arbeitete als technischer Ingenieur für die PMG – Postmaster General –, bis er sich 1974 zusammen mit drei Partnern selbstständig machte.
Doch immer wieder kehrt er nach Wyk zurück.
“Das erste Mal brachte ich Di mit, das war mitten im Winter und die Nordsee war vollkommen von Eis bedeckt! Aber die Fährschiffe konnten da durchbrechen.”
Einmal im Jahr besuchen sie die Insel. Am liebsten wohnen sie dann in einem der strohgedeckten Friesenhäuser in Greveling. Hella stößt dann zu ihnen, sowie der Kindheitsfreund Ekkehard und der Cousin Erich, der in München lebt. Und Schorschi und seine Frau Renate sind regelmäßige Besucher. Georg Heigl studierte Medizin und wurde Arzt. Er lebt heute auch auf Föhr. Seine Mutter überlebte die schwere Verwundung, und trotz ihres hohen Alters – 100 Jahre – lebt sie immer noch in ihrem eigenen Haus am Südstrand.
Nach dem Krieg heiratete Frau Heigl erneut. Und an Schorschis Stiefvater, Hern Kähler, kann ich mich sehr gut erinnern. Damals führte meine Tante das Lebensmittelgeschäft meiner Eltern am Südstrand. Jeden Abend kurz vor 18 Uhr kam Herr Kähler angeschritten. Er hatte einen besonders forschen Gang. Auf seinem Weg nach Hause von seinem wichtigen Posten im Nordsee Sanatorium, schaute er kurz in den Laden, um noch ein paar kleine Einkäufe zu tätigen. Er schien mir immer fröhlich und humorvoll – ein Mann mit ausladenden Gebärden. Schorschis Mutter war schon früher am Tag da gewesen. Eine kleine, gut gekleidete Frau war sie – eine richtige Dame, die von meiner Tante mit Respekt bedient wurde.
Ich bin erstaunt: durch eine Zufallsbegegnung (Harro besuchte mit zwei anderen Deutschen unsere Ausstellung) weben sich Fäden die auf die Insel Föhr zurückreichen.
“Ich bin ein Föhrfan,” schwärmt auch Di. “Immer erzähle ich meinen Freundinnen von Föhr, und nächstes Jahr wollen zwei mitkommen. Wir machen lange Spaziergänge am Strand, oder fahren auf unseren Fahrrädern über die Dörfer. Und abends gehen wir gern in die herrlichen Friesenkirchen und hören uns die Konzerte an. Regen und Wind stören uns nicht, man muss sich nur richtig anziehen!”
Als ich sie in ihrem Ferienhaus besuche, serviert Di ein Fischabendessen, dem es gelingt, irgendwie die australische Küche mit der Deutschen zu verbinden.
“Und was ist es, dass dich immer wieder nach Föhr zieht?” frage ich Harro. “Föhr ist in meinem Blut”, antwortet er schlicht. In seinen Augen ist ein Audruck ähnlich dem des Moosfischers Jens Jensen.
Harro hat das Wort ‘Hallig’ in seine email Adresse inkorporiert.
“Das ist das Bild, das sich immer vor Augen habe, wenn ich an Föhr denke. Der Blick übers Meer auf die Halligen.”
*Rungholt ist der Name der legendären Insel, die in der Ersten Groten Mandränke (Sturmflut) am 15. und 16. Januar 1362 sank. Den Erzählungen nach überlebte nur eine einzige Einwohnerin, die gerade Familie auf dem Festland besuchte. Viele Legenden umgeben die Geschichte der Insel, z.B. wurde auch behauptet, dass die Rungholter reiche Kaufleute waren, die Gottes Zorn erweckten, so dass die Insel ähnlich dem “Turmbau zu Babel” zerstört wurde!
Lange war es unsicher, ob die Insel überhaupt jemals bestanden habe. Aber nach jahrzehntelangen Forschungen entdeckte der Nordstander Andreas Busch endlich Spuren Rungholts im Wattenmeer.
Mehr darüber lesen: Rungholt
** Henning Boetius ist ein Autor, der auf Föhr aufwuchs und für seien Romanbiographien und Krimis bekannt ist. Sein Roman "Phönix aus der Asche" bietet eine glaubwürdige Erklärung für den legendären Untergang des Luftschiffs Hindenburg. Boetius' Vater, Eduard Boetius, war Ruderführer auf der Hindenburg zur Zeit des Unglücks. Mehr lesen: Henning Boetius
*** Heinz Lorenzen, In Brand geschossen und auf Strand gesetzt
Bilder: Haus Rungholt etwa 1940 (Harros Opa, Martin Schau im Vordergrund)
Haus Rungholt 2016, (Harro Brüggemann im Vordergrund)