Viele Deutsche wanderten in den fünfziger Jahren aus. Heutzutage bereiten Eltern ihre Kinder sorgfältig auf die große Umstellung vor, lassen sie an den Vorbereitungen teilhaben, überlegen sich, wie sie den Kindern den Weg erleichtern können. In den fünfziger Jahren waren Kinder eher Anhängsel.
'Sehen - nicht hören' hieß das Motto. Wenn Wichtiges besprochen wurde, wurden Kinder oft aus dem Zimmer geschickt. Was passiert, wenn ein Kind praktisch von heute auf morgen, unvorbereitet, in eine andere Welt versetzt wird?
'Sehen - nicht hören' hieß das Motto. Wenn Wichtiges besprochen wurde, wurden Kinder oft aus dem Zimmer geschickt. Was passiert, wenn ein Kind praktisch von heute auf morgen, unvorbereitet, in eine andere Welt versetzt wird?
Kinder wandern mit ihren Eltern aus. Wie erleben sie das, was empfinden sie?
Er kann sich an nichts erinnern, was vor seinem achten Lebensjahr geschah. Und auch die nächsten vier Jahre sind gelöscht – die Erinnerungen fangen an, als er etwa zwölf ist, und in Ascot Vale das Technical College betritt.
Auf einmal sind da Freunde: der Ungar Arnold, ein wissenschaftliches ‘wiz kid’ (Genie), der später Chemiker wird. Der Weißrusse namens Günther – ein Kauz. Der Sohn des italienischen Gemüsehändlers, dessen Laden an der Ecke stand – Frank (oder vielleicht Franco?). Oliver, dessen Familie von Malta stammte. Oder der Jugoslawe, der ihn zu Abenteuern überredete, von denen die Mütter am besten nichts erfuhren. Andere Freunde stammten von Polen, waren Letten oder Deutsche. Griechen, eine der größten Bevölkerungsgruppen in Melbourne, lebten nicht in Ascot Vale. Die Freunde ersetzen die Familie, die in Deutschland zurückgeblieben ist.
"Aber hattest du keine australischen Freunde?" frage ich. “Nein.”
Als Andrė acht Jahre alt war, entschloss seine Mutter sich zur Auswanderung. Sie kann sich bis zu ihrem letzten Lebenstag klar an die Bombennächte in Hamburg erinnern. Das war im Zweiten Weltkrieg. Nicht nur ihre Wohnung, sondern auch das Haus ihrer Eltern wurde vollkommen zerstört. Die Familie fand mit vielen anderen Unterschlupf in den Schrebergärten. In kleinen Lauben, die eigentlich nur für Tagesausflüge gedacht war, kamen ganze Familien unter. Lebten beengt, waren hungrig und kalt und schätzen sich glücklich, überhaupt überlebt zu haben.
Auf einmal sind da Freunde: der Ungar Arnold, ein wissenschaftliches ‘wiz kid’ (Genie), der später Chemiker wird. Der Weißrusse namens Günther – ein Kauz. Der Sohn des italienischen Gemüsehändlers, dessen Laden an der Ecke stand – Frank (oder vielleicht Franco?). Oliver, dessen Familie von Malta stammte. Oder der Jugoslawe, der ihn zu Abenteuern überredete, von denen die Mütter am besten nichts erfuhren. Andere Freunde stammten von Polen, waren Letten oder Deutsche. Griechen, eine der größten Bevölkerungsgruppen in Melbourne, lebten nicht in Ascot Vale. Die Freunde ersetzen die Familie, die in Deutschland zurückgeblieben ist.
"Aber hattest du keine australischen Freunde?" frage ich. “Nein.”
Als Andrė acht Jahre alt war, entschloss seine Mutter sich zur Auswanderung. Sie kann sich bis zu ihrem letzten Lebenstag klar an die Bombennächte in Hamburg erinnern. Das war im Zweiten Weltkrieg. Nicht nur ihre Wohnung, sondern auch das Haus ihrer Eltern wurde vollkommen zerstört. Die Familie fand mit vielen anderen Unterschlupf in den Schrebergärten. In kleinen Lauben, die eigentlich nur für Tagesausflüge gedacht war, kamen ganze Familien unter. Lebten beengt, waren hungrig und kalt und schätzen sich glücklich, überhaupt überlebt zu haben.
Der Schrebergarten lag an einem der Hamburger Kanäle. Eines Tages lässt die Mutter ihre kleine Tochter in der Obhut ihrer Großmutter. Die Kleine spielt draußen, spaziert zum Ende des Gartens, steigt über den Zaun, findet das Wasser … Stunden später erst wird sie gefunden. Sie ist ertrunken.
Als Andrė 1946 geboren wurde, werden die Trümmer rundherum seine Realität gewesen sein. Er kann sich daran genauso wenig daran erinnern wie an den Großvater, der ihn sehr geliebt hat (sein eigener Sohn war neunzehnjährig an der Russischen Front gefallen) oder die Großmutter. Nur ein Bild aus der Zeit:
“Ich erinnere mich an den Schuppen, der am Haus meines Großvaters stand. Ja, der Schuppen …” Und erzählt er stolz: “Ich bin in Deutschland zur Schule gegangen. Ich hatte eine Schultüte.”
Wissen tut er das nur, weil seine Mutter die Fotos aufbewahrt hat.
Inge fällt es schwer, in Hamburg Arbeit zu finden, sie ist ausgebildete Buchhalterin. Auch eine Wohnung steht nicht so schnell in Aussicht. Sie möchte gern neu anfangen, würde gern nach Kanada auswandern, da hat sie eine Tante, hätte die Unterstützung von Familie. Aber Kanada hat schon seine Grenzen dem Einwandererstrom geschlossen. Australien lockt mit Werbung, bietet Arbeit, Sonne, Wärme – im Mai 1954 besteigt Andrė mit seiner Mutter und dem Stiefvater die MS Skaubryn für die lange Reise nach Australien.
Von Geburt anfällig, befällt ihn auf dem Schiff eine schwere Mittelohrentzüdung. Drei Wochen liegt er auf der Krankenstation. Seine Mutter darf ihn nicht besuchen – auch davon weiß Andrė nur, weil seine Mutter es ihm erzählt hat.
Die Erinnerung – wie auch der Abschied von den Großeltern und Hamburg – ist getilgt. Ich finde, das Foto, das damals auf dem Hamburger Hauptbahnhof aufgenommen wurde, spricht Bände. Andrė ist der ernsthafte Junge im Mantel, der vor seiner Mutter steht, eine Schulter leicht hochgezogen, die andere gesenkt.
Drei Monate später treffen sie auf dem Station Pier in Melbourne ein. Von Melbourne sehen sie nichts. Die Einwanderer werden sofort in Züge verladen, die an die Transporte der jüdischen Bevölkerung erinnern, und nach Bonegilla, ins Auffangslager gebracht.
“Als wir dort ankamen, haben wir Frauen vor lauter Schrecken geheult,” erzählt Inge Jahre später. “Wir kamen aus Großstädten, gingen regelmäßig ins Theater oder in die Volksbühne, um die Operetten zu sehen. Wir waren an Kultur und Schwarzbrot gewöhnt – hier gab’s nichts von dem.”
Die öde Landschaft war bedrückend, die Unterkünfte in den Baracken primitiv und eng, der Geruch nach gekochtem Hammelfleisch legte sich über alles.
Am schlimmsten war es, dass man nie allein sein konnte. De Zimmer waren so klein, dass die Menschen sich auf den schmalen Rasenflächen zwischen den Gebäuden drängten und warteten. Registriert zu werden, Arbeit angeboten zu bekommen, von einer Möglichkeit zu hören, in Melbourne Unterkunft zu finden.
Andere Bonegilla Migrantenkinder erinnern sich an den Spaß, den sie hatten.
“Wir brauchten nicht zur Schule zu gehen – das war das Beste,” erzählt einer.
“Wir Kinder liefen herum in wilden Trudeln, den ganzen Tag lang wussten unsere Eltern nicht, wo wir waren oder was wir taten! Erst viel später erkannte ich, wie schwer es für unsere Mütter gewesen sein musste.” Die Familien wurden oft kurz nach der Ankunft getrennt – den Vätern wurden Arbeit auf Farmen in der Umgebung angeboten, oder gar auf den Zuckerplantagen im fernen Queensland.
Wieder hat Andrė keine Erinnerung an die ersten Monate in Australien.
Auch nicht an die Zeit darauf, als sie nach Melbourne ziehen, ein Zimmer in einem Rooming House finden und seine Mutter als Köchin arbeitet.
“Ich hatte keine Ahnung vom Kochen – und schon gar nicht von der australischen Küche,” schmunzelt Inge viele Jahre später.
Auch als sie nach Ascot Vale (ein Stadtteil im Nordwesten Melbournes) ziehen, mieten sie zuerst ein Zimmer bei einer Familie – Deutsche namens Franke.
Langsam reguliert sich das Leben. Inge findet nun Arbeit in einer Knopffabrik. Sie arbeitet am Fließband – gewinnt Freunde unter den vielen anderen Migranten, die dort arbeiten. Der Buchhalter der Fabrik wird pensioniert – voller Hoffnung bewirbt Inge sich um die Stelle. Der Fabrikbesitzer schüttelt den Kopf – Wie kann eine Frau und obendrein eine Deutsche diese wichtige Position füllen?
Sie wagt nicht, weiter zu suchen, verbringt den Rest ihres Arbeitslebens am Fließband. Sie spart fleißig und schafft es, ein Häuschen in der Hurtle Street zu kaufen. Und nun erinnert Andrė sich: An die ‘Show Grounds’, den Platz, wo der jährliche Melbourner Jahrmarkt stattfindet. Wie anderen kleinen Jungen in der Umgebung, gelingt es ihm sich einzuschleichen, Die Eintrittskosten kann die Mutter sich nicht leisten. An die Freundin Renate, die ihn mitnimmt, wenn sie regelmäßig die Schule schwänzt. Er kann Straßen, Läden beschreiben. Viele Jahre später, als wir einmal auf dem Weg zum Flughafen durch Ascot Vale fahren, kann er ohne Schwierigkeitn die Hurtle Street finden. Das Häuschen steht noch.
Andrė geht nun gern ins Kino, wenn die Mutter ihm das Geld gibt. Er erinnert sich an den Stiefvater, der des Morgens früh aufsteht und als echter ‘Handyman’ (Bastler) den Tag in seiner Werkstatt verbringt, bastelt, Reparaturen ausführt, das Haus ausbessert, tischlert, streicht. Andrė hat auch Spaß an diesen Arbeiten, beweist sein Geschick. Als er die Grundschule abgeschlossen hat, tritt er in das Ascot Vale Technical College ein und findet viele Freunde, die wie er von Auswanderern abstammen. Er ist nun zwölf Jahre alt.
In der Schatulle, in der seine Mutter Photos aufbewahrte, finde ich Bilder von ‘Davor’, vor der Auswanderung. Sie zeigen einen kleinen Andrė, immer wieder mit Tieren. Katzen, Hunden.
“Ich kann mich nicht darauf besinnen,” sagt er. Weiß weder die Namen der Katzen noch der Hunde. Nur: “Meine Mutter hat immer Katzen gehabt.” Auch Andrė wird zum Katzenliebhaber – meistens finden sie zu ihm und werden liebevoll aufgenommen.
Ein Leben, in dem das ‘Davor’, die Jahre in Deutschland, von einem undurchdringbaren Nebel versunken sind.
Wird der sich lichten, wenn wir jetzt nach Deutschland zurückkehren?
Photos: Abschied in Hamburg 1954; Weihnachten 1953; erster Schultag in Hamburg; Schule Australien;
1960; 1962; Opas Haus in Tiefstack; Opas Haus 1960; Weihnachten in Melbourne