“Schiete!” sage ich. Wir stehen im Supermarkt an der Kasse, als der Kassierer uns darauf hinweist, dass sich der Deckel am Töpfchen Schlagsahne gelöst hat. Die Sahne kleckert auf den Boden und das Fließband.
“Ich zieh das schon mal ab und Sie holen sich einen Neuen,” rät der Kassierer.
‘Schiete’ – habe ich gesagt! Laut und deutlich und in Hörweite der anderen Kunden, die aufs Bezahlen warten. Aber wir sind hier auf Föhr und da stört sich keiner dran! Sogar meine Mutter sagte ‘Schiete’, wenn was schief gegangen war – aber wehe, eine von uns hätte den hochdeutschen Ausdruck benutzt – o weia!
Ich mache mich also auf zum anderen Ende des Supermarkts, um mir ein neues Töpfchen Schlagsahne zu holen und könnte vor Freude hüpfen! Dies kleine Wörtchen, was mir so flugs, so spontan und auf Deutsch entkam, war mal wieder einer dieser Momente, wo ich mich so zu Hause fühlte – so angekommen!
“Ich zieh das schon mal ab und Sie holen sich einen Neuen,” rät der Kassierer.
‘Schiete’ – habe ich gesagt! Laut und deutlich und in Hörweite der anderen Kunden, die aufs Bezahlen warten. Aber wir sind hier auf Föhr und da stört sich keiner dran! Sogar meine Mutter sagte ‘Schiete’, wenn was schief gegangen war – aber wehe, eine von uns hätte den hochdeutschen Ausdruck benutzt – o weia!
Ich mache mich also auf zum anderen Ende des Supermarkts, um mir ein neues Töpfchen Schlagsahne zu holen und könnte vor Freude hüpfen! Dies kleine Wörtchen, was mir so flugs, so spontan und auf Deutsch entkam, war mal wieder einer dieser Momente, wo ich mich so zu Hause fühlte – so angekommen!
Nach 45 Jahren in Australien lebe ich wieder auf Föhr!
Kürzlich baten mich die Herausgeber unserer vierteljährlichen Inselzeitschrift, Üüb Feer (friesisch für
‘Auf Föhr’), einen Artikel zu schreiben. Drei Fragen sollte ich beantworten: Warum ging ich nach Australien, warum kam ich zurück und inwieweit hat sich die Insel meiner Kindheit gewandelt. Nichts einzuwenden gegen die Fragen – nur das Ganze soll in 2000 Zeichen (Zeichen – nicht Wörtern!!) stattfinden! Wie quetscht man
45 Jahre Leben und Erfahrung in 2000 Zeichen?? Gut, ich habe es geschafft, aber einfach war es nicht!
Warum ich meine Heimatinsel im Alter von 20 Jahren verließ – darüber habe ich mich ausführlich an mehreren Stellen ausgelassen.
Abenteuerlust war dabei – wer schlägt schon die Chance aus, in ein ganz anderes Land zu ziehen – in eine neue Kultur, Gesellschaft und Sprache zu tauchen; ein Land kennenzulernen, dessen Klima und Natur verlockend ungewöhnlich waren? Ausserdem hatte ich meinen ersten Mann, einen Australier, kennengelernt, und der wollte wieder nach Hause.
“Australien!” rufen Leute aus, die von meiner ‘Auszeit’ in der Fremde hören, und ihre Augen leuchten auf. Australien scheint für viele eine Art ‘letzter Horizont zu sein, ein Utopia, nachdem man sich sehnen muss. Zuerst bin ich ein bisschen verwirt, wenn ich gefragt werde, wie es denn war. “Es war halt … Leben,” kommt meine unzulängliche Antwort. Wie soll ich alles, was ich in Australien erlebt habe, in einen Zeitraffer stecken und eine befriedigende Antwort geben?
Mit der Zeit lerne ich, den Erwartungen der Frager gerecht zu werden. Wenn man die Zeit und die Gelegenheit hat (und das nötige Geld, reisen in Australien ist teuer), dann kann man die unwahrscheinliche Landschaft erkunden. Man kann Ursprüngliches, Uraltes und Zeitloses entdecken. Man kann durch den Busch und
die Regenwälder wandern; über die endlose rote Wüste staunen; Felsformationen entdecken, die den Menschen unscheinbar erscheinen lassen. Wenn man Glück hat, kann man Kontakt zu den Aboriginals,
den First Nation People, aufnehmen, und von ihrer tiefen Weisheit lernen. Da ist das Outback; das Korallenriff; die Strände, wo der Surf (die Brandung) haushoch tobt. Die Natur Australiens, die vom Menschen fast noch nicht berührt worden ist – das sind Erinnerungen, die mich tief beeindruckt haben und mich nie verlassen werden.
Aber dort habe ich nicht gelebt. Wie die meisten Australier habe ich in der Stadt gewohnt, genauer:
In Melbourne. Und wie bei den meisten Menschen standen auch bei mir der Beruf, der Haushalt, der Garten und das Kind im Vordergrund – und dieses Leben spielte sich in einer von den Briten, den ‘Anglo-Saxons’, geprägten Welt ab.
Heutzutage wird in Deutschland viel von Integration gesprochen. Auch von uns “New Australians” (Neuen Australiern) wurde lauthals Integration verlangt. Den meisten gelang das sehr gut: Wir lernten die Sprache
(das australische Englisch, das viele Slangwörter und kauzige Idiome benutzt). Akzeptierten, dass wir,
um ‘richtige’ Australier zu sein, uns einem Fussballteam (‘Aussie Rules’) mit Herz und Seele verschreiben mussten; lernten, wie die australische Gesellschaft funktioniert und gaben uns Mühe, uns anzupassen.
Doch ein Teil von uns sehnte sich nach Gleichgesinnten. Leuten, mit demselben Hintergrund wie wir.
Mit denen wir unsere Sprache sprechen und unsere Kultur feiern konnten.
Die Deutschen suchten andere Deutsche; die Italiener, Griechen, Holländer, Chinesen, Lebanesen, Vietnamesen, Türken, Afghaner usw fanden einander. Der Mensch fühlt sich in seiner eigenen Gruppe gewöhnlich am wohlsten!
Überall in Melbourne findet man kleine Enklaven verschiedener Volksgruppen – Gegenden mit typisch ethnischen Restaurants und Clubs; mit Läden, Seniorenheimen und Samstagsschulen, die den Kinder ihre Muttersprache vermitteln. Supermärkte geben sich Mühe in ihr Sortiment internationale Produkte einzubauen und Büchereien unterhalten ein Angebot fremdsprachiger Bücher – je nach den vorrangigen Zweitsprachen, die in dem Viertel vorherrschen.
So kann Multikulturismus beginnen.
Warum kam ich zurück nach Deutschland? Viele Gründe! Von Anfang an schmerzte es mich, meine Familie verlassen zu haben. Wir waren eine eng-gestrickte Familie und nun war ich nicht mehr dabei.
Ich vermisste Föhr – die Insel. Wie die Aboriginals bin ich dem Land, auf dem ich geboren bin, eng verbunden. Heim zu reisen, war immer etwas Wunderbares, nur war da auch immer das Wissen: Du musst wieder zurück! Und immer wieder hielt das tägliche Leben in Australien mich fest! Man hatte ja ein Haus, eine Hypothek, seine Arbeit, der Sohn wuchs auf, ging zur Schule – und da war die australische Familie, zu der ich mich auch zugehörig fühlte. Ich konnte ihnen schlecht den Sohn und den Enkel entführen!
Und doch bin ich hier – wieder auf Föhr! Fast hätte ich es im Jahre 2000 schon geschafft. Damals war meine erste Ehe auseinandergegangen, mein Sohn war erwachsen, beruflich hatte ich Lust, mich zu verändern und der Kontakt zur australischen Familie und alten Freunden war mit der Scheidung verloren gegangen.
Jedoch, just zu dem Zeitpunkt, lernte ich in Melbourne einen neuen Lebensgefährten kennen – einen Hamburger! Die nächsten Jahre verstrichen im Nu – und dann bot sich ganz plötzlich ein Haus auf Föhr an – das Haus meiner Großeltern, in dem unsere Tante bis zu ihrem Tode gelebt hatte. Ein Photo des Hauses genügte, um meinen Mann zu überzeugen: Das Haus behalten wir!
Ganze fünf Jahre renovierten wir – fast immer aus der Ferne!
Dann entschloss mein Mann, sich zur Ruhe zu setzen, das Haus auf Föhr war fast fertig … und innerlich hatte ich mit meinem Leben in Australien abgeschlossen. Mein Sohn arbeitet inzwischen im Ausland – wir haben keine Familie in Australien. Der Gedanke, dass einer von uns beiden eines Tages ganz allein in Melbourne säße, bedrückte mich. Auch hatte ich dadurch, dass ich solange einer australischen Familie angehört hatte, wenig Kontakte zur deutschen Gemeinschaft in Melbourne geschaffen. Und doch waren wir in unserem Wesen mehr europäisch als australisch.
So trafen wir die Entscheidung, nach Föhr zurückzukehren.
Seit Mai leben wir wieder hier! Vieles ist gewöhnungsbedürftig – die Fleischtheke im Supermarkt z.B. stellt uns vor Herausforderungen. Das Vieh wird hier anders zerlegt – ein Glück sind die Schlachter geduldig und erklären uns freundlich, was wir vor uns sehen!
Werden wir zu Weihnachten unseren traditionellen Turkey ins Rohr schieben? Pute ist lecker, aber schmeckt irgendwie anders!
Werden wir uns an Hase, Wildschein, Rebhühner und Co wagen? Oder wie die anderen Föhrer einen frisch geschlachteten Karpfen im Sud köcheln?
Die Auswahl an frischem Gemüse ist Saison-bedingter als in Melbourne – dafür gibt es Würstchen in so vielen Ausführungen, dass uns manchmal der Kopf schwirrt! Und ich entdecke andere, fast vergessene, Kostbarkeiten: Die Holunderblüten im Frühjahr, aus denen man einen herrlichen Gelee kochen kann. Der grell-gelbe Löwenzahn verwandelt sich in köstlichen Löwenzahnhonig. Wenn man weiß, wo man suchen muss, findet man eimerweise frische Brombeeren, die man zu Kuchen und Marmelade verarbeitet.
Als die Blätter im Buchenwald gegenüber von unserem Haus ein herbstliches Gold tragen, erinnere ich mich an meine Kindheit. Da liefen wir durch den Wald und sammelten Bucheckern – und tatsächlich, da sind sie!
Inzwischen hat sich der Wald gelichtet, wir haben schon eine Sturmflut miterlebt und zwei Orkane – na, was ist schon eine ‘steife Brise’ an der Nordsee?
Die Strandkörbe haben sich in ihr Winterquartier verkrümelt, die Touristen ditto! Nun sind ‘wir Föhrer unter uns’, wie wir einander versichern. Die Saison war anstrengend – Schlangen im Supermarkt, Gedrängel um die besten Plätze in den Cafes und Restaurants und Geschubse um die Parkplätze. Andererseits war das bunte Treiben am Sandwall (unserer Café- und Renomierstrasse) auch lustig anzuschauen. Und kulturell? Sicher, die Großstadt bietet einem eine große Skala kultureller Veranstaltungen. Aber in Melbourne sind Konzert-, Theater-, Opern - oder Balletbesuche teuer. Dazu kommt die Anfahrt (durch den starken Verkehr beeinträchtigt) und das teure Parken. Föhr bietet als Kurort eine reiche Auswahl an Veranstaltungen, und die meisten kann man gemütlich zu Fuss oder auf dem Fahrrad erreichen. Ausstellungen. Konzerte und Vorstellungen wechseln sich ab und alles kostet einen Bruchteil von dem, was wir in Melbourne hätten zahlen müssen. Jetzt im Herbst und Winter bietet die Volkshochschule außerdem ein Programm, das dem des CAE (Council of Adult Education) in nichts nachsteht. Außerdem gibt es Sportclubs, Fitness Studios und Wellness Angebote aller Art … im Winter verwöhnen sich die Insulaner!
“Aber vermissen Sie nicht die Weite Australiens?” werde ich gefragt.
Nein! Wenn wir in die Marsch fahren, sind wir überwältigt von dem flachen, grünen Land, dem immensen Himmel. Man kann stundenlang auf dem Deich spazieren gehen, zu einer Hand das Meer bis an den Horizont, zur anderen die Brutstätten der vielen Vogelarten, die durch die gezielte Renaturisierung vieler Flächen die Insel anfliegen. (Direkt gegenüber von uns brüten die Störche, die Mutigeren unter ihnen trifft man sogar manchmal beim Spaziergang auf dem Fussteig oder im Watt!)
Und dann der Strand! Von Wyk kann man bis nach Utersum (etwa 15km) am Strand entlang laufen. Dort trifft man dann auf den Deich. Man sieht man die Nachbarinseln Amrum und Sylt, die ihre Spitzen einander zu strecken.
Und wenn es ebbt, erstreckt sich das Watt vor uns. Eine schillernde Weite, die zum Barfusslaufen einlädt.
Täglich erlebe ich etwas wieder: Ich laufe am Wassersaum entlang, finde die kleinen Steinchen und Muscheln, die wir als Kinder schätzten. Das Wasser plätschert sanft – und die Nordsee … ist halt die Nordsee. So oft versuchte ich mir in Melbourne vorzutäuschen, dass es die Nordsee sei und nicht der Südpazifische Ozean, der da vor mir lag. Aber der Ozean ist anders – er erinnerte mich nur an die tausende von Meilen, die mich von meiner Heimat und meiner Familie trennten.
Hat sich die Insel meiner Kindheit geändert?
Sicher, auch Föhr ist dem Fortschritt nicht immun geblieben.
Straßen, auf denen einst Lastwagen entlang donnerten, sind zu Fussgängerzonen geworden! Es ist viel gebaut worden – früher wusste man, wer in jedem Haus in Wyk wohnte, nun stehen im Winter viele Häuser leer, da sie nur noch Ferienwohnungen beherbergen.
Aber immer noch schwimmen die Halligen verträumt zwischen uns und dem Festland. Die alten Friesenhäuser stehen in den Dörfern, umrandet von ihren üppigen Gärten. In meinen Ohren klingt der Tonfall der Föhrer wie eine heimelige Melodie.
Und ich habe meine Familie um mich. Jederzeit kann ich den Telefonhörer heben, und jemanden anrufen – ohne mich zu sorgen, dass bei ihnen vielleicht gerade Nacht ist (der Zeitunterschied zwischen Australien und Deutschland beträgt im Winter zehn Stunden.) In Melbourne hatten wir selten Besuch, hier schaut immer wieder mal jemand vorbei!
Hier bin ich ich. Ich brauche mich nicht für meinen Akzent entschuldigen; nicht für die Greueltaten, die die Deutschen einst begingen; nicht für meinen Humor oder meine deutschen Sitten!
Jeden Tag gibt es einen Moment, an dem ich nur durchatme und staune: Ich bin wieder hier – zu Hause.
Mehr über mein Leben in Australien in Ein bisschen Heimat im Gepäck, ihleo verlag, Husum
und 'Australien durch die Hintertür in Australien wie wir es sehen, Drachenmond Verlag
Photos: Viermal Australien, viermal Föhr
Kürzlich baten mich die Herausgeber unserer vierteljährlichen Inselzeitschrift, Üüb Feer (friesisch für
‘Auf Föhr’), einen Artikel zu schreiben. Drei Fragen sollte ich beantworten: Warum ging ich nach Australien, warum kam ich zurück und inwieweit hat sich die Insel meiner Kindheit gewandelt. Nichts einzuwenden gegen die Fragen – nur das Ganze soll in 2000 Zeichen (Zeichen – nicht Wörtern!!) stattfinden! Wie quetscht man
45 Jahre Leben und Erfahrung in 2000 Zeichen?? Gut, ich habe es geschafft, aber einfach war es nicht!
Warum ich meine Heimatinsel im Alter von 20 Jahren verließ – darüber habe ich mich ausführlich an mehreren Stellen ausgelassen.
Abenteuerlust war dabei – wer schlägt schon die Chance aus, in ein ganz anderes Land zu ziehen – in eine neue Kultur, Gesellschaft und Sprache zu tauchen; ein Land kennenzulernen, dessen Klima und Natur verlockend ungewöhnlich waren? Ausserdem hatte ich meinen ersten Mann, einen Australier, kennengelernt, und der wollte wieder nach Hause.
“Australien!” rufen Leute aus, die von meiner ‘Auszeit’ in der Fremde hören, und ihre Augen leuchten auf. Australien scheint für viele eine Art ‘letzter Horizont zu sein, ein Utopia, nachdem man sich sehnen muss. Zuerst bin ich ein bisschen verwirt, wenn ich gefragt werde, wie es denn war. “Es war halt … Leben,” kommt meine unzulängliche Antwort. Wie soll ich alles, was ich in Australien erlebt habe, in einen Zeitraffer stecken und eine befriedigende Antwort geben?
Mit der Zeit lerne ich, den Erwartungen der Frager gerecht zu werden. Wenn man die Zeit und die Gelegenheit hat (und das nötige Geld, reisen in Australien ist teuer), dann kann man die unwahrscheinliche Landschaft erkunden. Man kann Ursprüngliches, Uraltes und Zeitloses entdecken. Man kann durch den Busch und
die Regenwälder wandern; über die endlose rote Wüste staunen; Felsformationen entdecken, die den Menschen unscheinbar erscheinen lassen. Wenn man Glück hat, kann man Kontakt zu den Aboriginals,
den First Nation People, aufnehmen, und von ihrer tiefen Weisheit lernen. Da ist das Outback; das Korallenriff; die Strände, wo der Surf (die Brandung) haushoch tobt. Die Natur Australiens, die vom Menschen fast noch nicht berührt worden ist – das sind Erinnerungen, die mich tief beeindruckt haben und mich nie verlassen werden.
Aber dort habe ich nicht gelebt. Wie die meisten Australier habe ich in der Stadt gewohnt, genauer:
In Melbourne. Und wie bei den meisten Menschen standen auch bei mir der Beruf, der Haushalt, der Garten und das Kind im Vordergrund – und dieses Leben spielte sich in einer von den Briten, den ‘Anglo-Saxons’, geprägten Welt ab.
Heutzutage wird in Deutschland viel von Integration gesprochen. Auch von uns “New Australians” (Neuen Australiern) wurde lauthals Integration verlangt. Den meisten gelang das sehr gut: Wir lernten die Sprache
(das australische Englisch, das viele Slangwörter und kauzige Idiome benutzt). Akzeptierten, dass wir,
um ‘richtige’ Australier zu sein, uns einem Fussballteam (‘Aussie Rules’) mit Herz und Seele verschreiben mussten; lernten, wie die australische Gesellschaft funktioniert und gaben uns Mühe, uns anzupassen.
Doch ein Teil von uns sehnte sich nach Gleichgesinnten. Leuten, mit demselben Hintergrund wie wir.
Mit denen wir unsere Sprache sprechen und unsere Kultur feiern konnten.
Die Deutschen suchten andere Deutsche; die Italiener, Griechen, Holländer, Chinesen, Lebanesen, Vietnamesen, Türken, Afghaner usw fanden einander. Der Mensch fühlt sich in seiner eigenen Gruppe gewöhnlich am wohlsten!
Überall in Melbourne findet man kleine Enklaven verschiedener Volksgruppen – Gegenden mit typisch ethnischen Restaurants und Clubs; mit Läden, Seniorenheimen und Samstagsschulen, die den Kinder ihre Muttersprache vermitteln. Supermärkte geben sich Mühe in ihr Sortiment internationale Produkte einzubauen und Büchereien unterhalten ein Angebot fremdsprachiger Bücher – je nach den vorrangigen Zweitsprachen, die in dem Viertel vorherrschen.
So kann Multikulturismus beginnen.
Warum kam ich zurück nach Deutschland? Viele Gründe! Von Anfang an schmerzte es mich, meine Familie verlassen zu haben. Wir waren eine eng-gestrickte Familie und nun war ich nicht mehr dabei.
Ich vermisste Föhr – die Insel. Wie die Aboriginals bin ich dem Land, auf dem ich geboren bin, eng verbunden. Heim zu reisen, war immer etwas Wunderbares, nur war da auch immer das Wissen: Du musst wieder zurück! Und immer wieder hielt das tägliche Leben in Australien mich fest! Man hatte ja ein Haus, eine Hypothek, seine Arbeit, der Sohn wuchs auf, ging zur Schule – und da war die australische Familie, zu der ich mich auch zugehörig fühlte. Ich konnte ihnen schlecht den Sohn und den Enkel entführen!
Und doch bin ich hier – wieder auf Föhr! Fast hätte ich es im Jahre 2000 schon geschafft. Damals war meine erste Ehe auseinandergegangen, mein Sohn war erwachsen, beruflich hatte ich Lust, mich zu verändern und der Kontakt zur australischen Familie und alten Freunden war mit der Scheidung verloren gegangen.
Jedoch, just zu dem Zeitpunkt, lernte ich in Melbourne einen neuen Lebensgefährten kennen – einen Hamburger! Die nächsten Jahre verstrichen im Nu – und dann bot sich ganz plötzlich ein Haus auf Föhr an – das Haus meiner Großeltern, in dem unsere Tante bis zu ihrem Tode gelebt hatte. Ein Photo des Hauses genügte, um meinen Mann zu überzeugen: Das Haus behalten wir!
Ganze fünf Jahre renovierten wir – fast immer aus der Ferne!
Dann entschloss mein Mann, sich zur Ruhe zu setzen, das Haus auf Föhr war fast fertig … und innerlich hatte ich mit meinem Leben in Australien abgeschlossen. Mein Sohn arbeitet inzwischen im Ausland – wir haben keine Familie in Australien. Der Gedanke, dass einer von uns beiden eines Tages ganz allein in Melbourne säße, bedrückte mich. Auch hatte ich dadurch, dass ich solange einer australischen Familie angehört hatte, wenig Kontakte zur deutschen Gemeinschaft in Melbourne geschaffen. Und doch waren wir in unserem Wesen mehr europäisch als australisch.
So trafen wir die Entscheidung, nach Föhr zurückzukehren.
Seit Mai leben wir wieder hier! Vieles ist gewöhnungsbedürftig – die Fleischtheke im Supermarkt z.B. stellt uns vor Herausforderungen. Das Vieh wird hier anders zerlegt – ein Glück sind die Schlachter geduldig und erklären uns freundlich, was wir vor uns sehen!
Werden wir zu Weihnachten unseren traditionellen Turkey ins Rohr schieben? Pute ist lecker, aber schmeckt irgendwie anders!
Werden wir uns an Hase, Wildschein, Rebhühner und Co wagen? Oder wie die anderen Föhrer einen frisch geschlachteten Karpfen im Sud köcheln?
Die Auswahl an frischem Gemüse ist Saison-bedingter als in Melbourne – dafür gibt es Würstchen in so vielen Ausführungen, dass uns manchmal der Kopf schwirrt! Und ich entdecke andere, fast vergessene, Kostbarkeiten: Die Holunderblüten im Frühjahr, aus denen man einen herrlichen Gelee kochen kann. Der grell-gelbe Löwenzahn verwandelt sich in köstlichen Löwenzahnhonig. Wenn man weiß, wo man suchen muss, findet man eimerweise frische Brombeeren, die man zu Kuchen und Marmelade verarbeitet.
Als die Blätter im Buchenwald gegenüber von unserem Haus ein herbstliches Gold tragen, erinnere ich mich an meine Kindheit. Da liefen wir durch den Wald und sammelten Bucheckern – und tatsächlich, da sind sie!
Inzwischen hat sich der Wald gelichtet, wir haben schon eine Sturmflut miterlebt und zwei Orkane – na, was ist schon eine ‘steife Brise’ an der Nordsee?
Die Strandkörbe haben sich in ihr Winterquartier verkrümelt, die Touristen ditto! Nun sind ‘wir Föhrer unter uns’, wie wir einander versichern. Die Saison war anstrengend – Schlangen im Supermarkt, Gedrängel um die besten Plätze in den Cafes und Restaurants und Geschubse um die Parkplätze. Andererseits war das bunte Treiben am Sandwall (unserer Café- und Renomierstrasse) auch lustig anzuschauen. Und kulturell? Sicher, die Großstadt bietet einem eine große Skala kultureller Veranstaltungen. Aber in Melbourne sind Konzert-, Theater-, Opern - oder Balletbesuche teuer. Dazu kommt die Anfahrt (durch den starken Verkehr beeinträchtigt) und das teure Parken. Föhr bietet als Kurort eine reiche Auswahl an Veranstaltungen, und die meisten kann man gemütlich zu Fuss oder auf dem Fahrrad erreichen. Ausstellungen. Konzerte und Vorstellungen wechseln sich ab und alles kostet einen Bruchteil von dem, was wir in Melbourne hätten zahlen müssen. Jetzt im Herbst und Winter bietet die Volkshochschule außerdem ein Programm, das dem des CAE (Council of Adult Education) in nichts nachsteht. Außerdem gibt es Sportclubs, Fitness Studios und Wellness Angebote aller Art … im Winter verwöhnen sich die Insulaner!
“Aber vermissen Sie nicht die Weite Australiens?” werde ich gefragt.
Nein! Wenn wir in die Marsch fahren, sind wir überwältigt von dem flachen, grünen Land, dem immensen Himmel. Man kann stundenlang auf dem Deich spazieren gehen, zu einer Hand das Meer bis an den Horizont, zur anderen die Brutstätten der vielen Vogelarten, die durch die gezielte Renaturisierung vieler Flächen die Insel anfliegen. (Direkt gegenüber von uns brüten die Störche, die Mutigeren unter ihnen trifft man sogar manchmal beim Spaziergang auf dem Fussteig oder im Watt!)
Und dann der Strand! Von Wyk kann man bis nach Utersum (etwa 15km) am Strand entlang laufen. Dort trifft man dann auf den Deich. Man sieht man die Nachbarinseln Amrum und Sylt, die ihre Spitzen einander zu strecken.
Und wenn es ebbt, erstreckt sich das Watt vor uns. Eine schillernde Weite, die zum Barfusslaufen einlädt.
Täglich erlebe ich etwas wieder: Ich laufe am Wassersaum entlang, finde die kleinen Steinchen und Muscheln, die wir als Kinder schätzten. Das Wasser plätschert sanft – und die Nordsee … ist halt die Nordsee. So oft versuchte ich mir in Melbourne vorzutäuschen, dass es die Nordsee sei und nicht der Südpazifische Ozean, der da vor mir lag. Aber der Ozean ist anders – er erinnerte mich nur an die tausende von Meilen, die mich von meiner Heimat und meiner Familie trennten.
Hat sich die Insel meiner Kindheit geändert?
Sicher, auch Föhr ist dem Fortschritt nicht immun geblieben.
Straßen, auf denen einst Lastwagen entlang donnerten, sind zu Fussgängerzonen geworden! Es ist viel gebaut worden – früher wusste man, wer in jedem Haus in Wyk wohnte, nun stehen im Winter viele Häuser leer, da sie nur noch Ferienwohnungen beherbergen.
Aber immer noch schwimmen die Halligen verträumt zwischen uns und dem Festland. Die alten Friesenhäuser stehen in den Dörfern, umrandet von ihren üppigen Gärten. In meinen Ohren klingt der Tonfall der Föhrer wie eine heimelige Melodie.
Und ich habe meine Familie um mich. Jederzeit kann ich den Telefonhörer heben, und jemanden anrufen – ohne mich zu sorgen, dass bei ihnen vielleicht gerade Nacht ist (der Zeitunterschied zwischen Australien und Deutschland beträgt im Winter zehn Stunden.) In Melbourne hatten wir selten Besuch, hier schaut immer wieder mal jemand vorbei!
Hier bin ich ich. Ich brauche mich nicht für meinen Akzent entschuldigen; nicht für die Greueltaten, die die Deutschen einst begingen; nicht für meinen Humor oder meine deutschen Sitten!
Jeden Tag gibt es einen Moment, an dem ich nur durchatme und staune: Ich bin wieder hier – zu Hause.
Mehr über mein Leben in Australien in Ein bisschen Heimat im Gepäck, ihleo verlag, Husum
und 'Australien durch die Hintertür in Australien wie wir es sehen, Drachenmond Verlag
Photos: Viermal Australien, viermal Föhr