Wie erlebt man das, in eine Heimat zurückzukehren, an die man nur noch vage Erinnerungen hat?
Rosie ist eine Institution.
In Wyk, auf der Insel Föhr, holt man, wenn man gut informiert sein möchte, am Morgen seine Brötchen am besten bei Rosie.
Rosie kennt all ihre Kunden und alle Wyker und Rosie weiß alles, was in Wyk wissenswert ist.
So ist sie auch nicht erstaunt, als André und ich an unserem ersten Morgen auf Föhr in den Laden treten. Obwohl ich im Oktober des Vorjahres das letzte Mal hier war – und André zum ersten Mal überhaupt auf der Insel steht. Wahrscheinlich hat Rosie jemand unsere Ankunft auf der 20 Uhr Fähre am Abend zuvor schon längst gemeldet.
“Sie hat sich gar nicht gewundert,” wundert André sich.
Bei Rosie kreuzen sich die Fäden wie im Kontrollraum eines Nachrichtenzentrums. Wer was … mit wem … wo … Wer bei Rosie in den Laden tritt, teilt sich mit, erzählt, nimmt teil, wird informiert.
“Rosie weiss Bescheid, sie weiss alles,” antworten wir im Chor.
Natürlich gibt es andere Bäcker in Wyk (z.B. Bäcker Hansen und Bäcker Mengel), die genauso gut Brötchen backen können, aber Insider suchen halt Rosie auf, die hat den Schnack nämlich schon von ihrer Mutter gelernt – Wallie konnte genauso urig Kontra geben.
An diesem Morgen deutet Rosie nach der Begrüßung auf ihr Angebot. Roggen- oder Dinkel Brötchen, Dreikorn oder Mehrkorn. Brötchen mit Mohn-, Sesam-, Kürbis- oder Sonnenblumenkernen. Weltmeister oder Rosinenbrötchen. Vielleicht lieber ein Croissant?
Ich wehre ab. “Bloss nichts Gesundes,” sage ich. “Und nichts Ausgefallenes. André mag nur ’normale’, weiße.”
“Ah, dann ein männerfreundliches Brötchen,” nickt Rosie und füllt auch schon die Tüte. Rosie hat Verständnis für all ihre Kunden.
“Nervt dich das nicht,” stöhnt ein anderer Zugezogener, “diese Kleinstadtatmosphäre? Dass alle … alles … über jeden … wissen?”
André schüttelt den Kopf. Das hat er noch nicht bemerkt, erstmal hat er zuviel damit zu tun, sich überhaupt zu orientieren.
In Wyk, auf der Insel Föhr, holt man, wenn man gut informiert sein möchte, am Morgen seine Brötchen am besten bei Rosie.
Rosie kennt all ihre Kunden und alle Wyker und Rosie weiß alles, was in Wyk wissenswert ist.
So ist sie auch nicht erstaunt, als André und ich an unserem ersten Morgen auf Föhr in den Laden treten. Obwohl ich im Oktober des Vorjahres das letzte Mal hier war – und André zum ersten Mal überhaupt auf der Insel steht. Wahrscheinlich hat Rosie jemand unsere Ankunft auf der 20 Uhr Fähre am Abend zuvor schon längst gemeldet.
“Sie hat sich gar nicht gewundert,” wundert André sich.
Bei Rosie kreuzen sich die Fäden wie im Kontrollraum eines Nachrichtenzentrums. Wer was … mit wem … wo … Wer bei Rosie in den Laden tritt, teilt sich mit, erzählt, nimmt teil, wird informiert.
“Rosie weiss Bescheid, sie weiss alles,” antworten wir im Chor.
Natürlich gibt es andere Bäcker in Wyk (z.B. Bäcker Hansen und Bäcker Mengel), die genauso gut Brötchen backen können, aber Insider suchen halt Rosie auf, die hat den Schnack nämlich schon von ihrer Mutter gelernt – Wallie konnte genauso urig Kontra geben.
An diesem Morgen deutet Rosie nach der Begrüßung auf ihr Angebot. Roggen- oder Dinkel Brötchen, Dreikorn oder Mehrkorn. Brötchen mit Mohn-, Sesam-, Kürbis- oder Sonnenblumenkernen. Weltmeister oder Rosinenbrötchen. Vielleicht lieber ein Croissant?
Ich wehre ab. “Bloss nichts Gesundes,” sage ich. “Und nichts Ausgefallenes. André mag nur ’normale’, weiße.”
“Ah, dann ein männerfreundliches Brötchen,” nickt Rosie und füllt auch schon die Tüte. Rosie hat Verständnis für all ihre Kunden.
“Nervt dich das nicht,” stöhnt ein anderer Zugezogener, “diese Kleinstadtatmosphäre? Dass alle … alles … über jeden … wissen?”
André schüttelt den Kopf. Das hat er noch nicht bemerkt, erstmal hat er zuviel damit zu tun, sich überhaupt zu orientieren.
Da ist zum Beispiel der Supermarkt. André geht gern einkaufen. Zuhause tätigt er den Großteil unserer Einkäufe. Die Eigenschaften des Jäger-Sammler-Urvolkes sind in ihm stark vertreten. Er scheut keinen Weg und keine Mühe, um neue interessante Leckereien, oder alte Favouriten auf unseren Tisch zu bringen. Ich bin eher der Typ “Einkaufswagenschieber”. Wohl um seine Leidenschaft wissend, habe ich ihn im Vorfeld sorgfältig auf unsere Zeit auf Föhr vorbereitet.
“Es gibt drei große Supermärkte,” habe ich ihm erklärt. Lidl und Sky liegen im Gewerbegebiet, der einzige Nachteil ist, dass man dann mit den schwer bepackten Fahrrädern den Schutzdeich hochfahren muss, um zurück in die Stadt zu kommen (ja: Wyk ist eine Stadt, schon seit 1910).
Es gibt allerdings auch einen Schleichweg, den ich gern bei starkem Wind fahre (hinten beim Baumarkt rum, über die Chaussee, in die Schifferstraße …).
Außer Lidl und Sky gibt es noch den großen Edeka Markt (Kaufring). Der Vorteil: er liegt in der Stadt und ist ausgezeichnet durchsortiert. Besonders bei älteren Herrschaften oder Leuten, die es eilig haben, beliebt, da er leicht mit dem Fahrrad oder zu Fuss zu erreichen ist. Allerdings ist das Meiste hier etwas teurer.
“Also, wir fangen bei Lidl an,” erkläre ich André. “Da besorgen wir den Grundstock. Dann machen wir bei Sky weiter und schließlich holen wir das, was wir sonst noch brauchen bei Kaufring.”
(Neben den drei Großen gibt es noch den Edeka am Südstrand, der das Ambiente eines edlen Feinkostgeschäftes hat, und Stammer – “Der letzte Kaufmann vor Dagebüll”.)
Anhand einer Stadtkarte mache ich ihm die Standorte dieser wichtigen Einrichtungen anschaulich. André gähnt. Macht nichts, sein Richtungssinn ist eh 100 mal besser ausgebildet als meiner. Wahrscheinlich hat ein kurzer Blick auf die Karte genügt – kommt er erstmal auf Föhr an, wird er sich sofort zurechtfinden.
Weil ich denke, dass ich damit sofort einen Treffer lande, beginnt unser erster Tag auf Föhr (après Rosie) mit einem Tripp zum Supermarkt. Da meine Schwester ihr Auto mitgebracht hat und wir ja nun wirklich alles brauchen, fahren wir im Auto ins Gewerbegebiet.
Entgegen meiner Erwartungen entpuppt sich der Besuch in diesem Einkaufsparadies aber als überwältigend.
Das Erlebnis ist ähnlich wie bei jemandem, der zum ersten Mal in seinem oder ihrem Leben eine virtuelle Welt besucht. Und natürlich – viel zu spät erinnere mich: Nichts in einem Supermarkt im Ausland ist wie das, was man erwartet oder von zuhause kennt.
Man erkennt den Umriss: Gänge, Regale, Waren – nur nichts ist halt so, wie man es gewöhnt ist. Fast alles hat einen anderen Namen, ist von einer anderen Marke, und steht am falschen Platz. Hilflos steht er da.
“I felt like a fish out of water. Surreal,” sagt er später.
Ich erinnere mich, dass dasselbe einer Schwägerin geschah, die lange Jahre auf einem Dorf in Norwegen gelebt hatte. Das reichhaltige Angebot, dieses Gefühl im falschen Traum gelandet zu sein, führte dazu, dass sie den Supermarktbesuch nach ihrer Rückkehr nach Melbourne lange ganz verweigerte.
Wir begreifen schnell, dass die neuen Eindrücke André zu überwältigen drohen. Wir gehen nun alles langsamer an: Wir schreiben eine Einkaufsliste.
Anstatt ungeduldig auf das richtige Regal zuzusteuern, halte ich mich zurück. Lasse ihm Zeit sich zu orientieren, einfach mal zu gucken, Sachen in die Hand zu nehmen, Etiketten in Ruhe zu entziffern.
Es klappt. Jetzt, nach drei Wochen, liebt er diese täglichen Entdeckungsreisen.
Täglich? In Melbourne kaufen wir einmal in der Woche ein!
Nun ja, erstens haben wir hier kein Auto, unsere Shopping Tripps sind ans Fahrrad und die Größe unserer Fahrradkörbe gebunden.
Zweitens hat unserer Kühlschrank hier – wie viele Kühlschränke in deutschen Familien – etwa ein Drittel der Größe unseres australischen Modells. Drittens fehlt uns der Grundstock, den wir zu Hause gemäß unseren Geschmäckern und Geflogenheiten aufgebaut haben.
Außerdem haben wir in Melbourne einen wöchentlichen Speiseplan, dem wir mit wenigen Abänderungen folgen. Es dauert eine Weile, bis wir das hier schaffen. Was essen wir heute Abend, ist eine Frage, die uns täglich aufs Neue konfrontiert.
Zum Beispiel sieht das Fleich hier anders aus – das Vieh wird anders zerschnitten und aufgeteilt. Was hier Rumpsteak genannt wird, heißt in Australien Porterhouse.
Die Schweinekoteletts, die André sich von seinem Schlachter mit einer dicken Speckrinde schneiden lässt, die er gern schön krosch bratet, werden hier ohne die Speckrinde verkauft. Es gibt so Sachen wie ‘Hochrippe’ oder ‘Tafelspitz’, ‘Kluftsteak’, ‘Kalbshinterhaxe’ oder ‘Hüftsteak’ von denen ich auch nicht weiß, was man damit anfängt.
Die Braten (Rinder-, Schweine- oder Lammbraten) sehen anders aus oder werden nur als große Familienbraten verkauft. Vorsichtig tasten wir uns an die Materie heran, probieren dies oder das, und sind erfolgreich. Wir entdecken Sachen, die wir auch zu Hause gern essen, zum Beispiel marinierte Hühnerflügel.
Und das zum Gulasch vorbereitete Fleisch ist sogar viel schmackhafter als in Australien.
Ich schwärme auch vom neuseeländischen Lamm, das aus irgendwelchen skurrilen Gründen in Australien nicht eingeführt werden darf.
Hier auf Föhr steht es – neben Föhrer Deichlamm – ganz oben auf meiner Liste.
Nur das Sauerfleisch, dass ich gern esse, reizt meinen Lebensgefährten noch nicht.
Aber ehe ich den Eindruck erwecke, dass alles nur schwierig ist, erzähle ich mal von den Höhepunkten. Einer davon ist die Leberwursttheke!
In Australien gibt es Leberwurst – ein paar Sorten.
Hier gibt es Leberwurstkünstler, die keine Mühe scheuen, diese Delikatesse immer wieder neu zu erfinden. Die Stufen von ‘fein’ bis ‘grob’ sind schier endlos. Die Geschmacksverfeinerungen setzen jeden Feinschmecker in Ekstase.
“Wollen wir mal wieder die Leberwursttheke besuchen?” Ein Satz, der Missmut sofort in Freude übersetzt.
Ditto die Käsetheke. Die Auswahl lässt mein Herz höher schlagen.
Und ich als echter Norddeutscher liebe natürlich die Auswahl an Rohem Schinken – Landrauch, Luftgetrockneter, Schwarzwälder, Nuss, Lachs oder Katenschinken sind nur einige Sorten. Dazu gehört natürlich jetzt im Mai frischer, weißer Spargel. Weißen Spargel gibt es in Melbourne nur für kurze Zeit im Jahr. Er ist teuer und ich kaufe ihn nicht, weil ich dem Geschmack nicht traue.
In Deutschland gehört Spargel zum Mai wie in Australien der Meat Pie (die Fleischpastete) zum Footie (Fussball).
Und lasst mich nicht von den Fischgeschäften – den Fischsalaten, den Herings- und Matjesbrötchen anfangen. Oder den frischen Matjes, der in vielen Restaurants auf drei Arten serviert wird.
Oder dem Räucheraal, den Makrelen, den grünen Heringen …
Die Gemüseabteilung wiederrum enttäuscht: Die Auswahl ist viel geringer und saisonbedingter als in Melbourne. ‘Broccolini’ zum Beispiel habe ich noch nie finden können.
Es gibt ein anderes Problem, das uns ständig konfrontiert: André weiß gar nicht, wie alles hier funktioniert.
Wenige Tage nachdem wir angekommen sind, verweigert die Waschmaschine den Dienst.
“Zuhause wüsste ich sofort was zu tun wäre ,” stellt André unglücklich fest. “Da hätte ich all meine Werkzeuge oder zur Not wüsste ich genau, welchen Handwerker ich anrufen müsste.”
Hier haben wir kaum Werkzeug – das, was noch von meinem Opa, dem Tischlermeister, da war, ist irgendwie im Laufe der Renovierung, die mittlerweile ins fünfte Jahr geht, verschwunden.
Zuhause regelt André alles was mit Handwerkern zu tun hat – hier muss er sich da ganz auf mich verlassen. Das ist frustrierend.
Sein “Unwissen” was deutsches Know-how betrifft, wird ihm immer wieder vor Augen geführt.
Ich brauche eine Eieruhr und finde auch ein nettes Modell (lila!) bei Kaufring in der Haushaltswarenabteilung. Ich trage es nach Hause und will es auch gleich einsetzen – nur: das Ding klingelt schwächlich, etwa wie eine Maus die ihr Leben aushaucht. Das bringt mir nichts.
“Das tragen wir zurück!”
Gesagt, getan. Wir machen auch sofort einen Verkäufer ausfindig, dem wir triumphierend die Unfähigkeit des Geräts unterbreiten. Er nimmt die Eieruhr ohne Kommentar in die Hand, zieht sie einmal auf, bis zu dem 60 Minuten Stand, und dreht sie dann zurück. Etwa eine Minute lang tickt das Ding lautstark und wichtigtuerisch. Wir warten alle drei gebannt, und dann klingelt es laut und schrill.
???
“Man muss es erst ganz aufziehen.” Der Triumph ist nun auf Seiten des Verkäufers.
“Aber das steht da nicht,” sagt André in seinem besten Deutsch.
“Nein – das weiß man,” lautet die Antwort.
Bumms.
Die Betonung, die er auf das ‘man’ legt deutet an, dass wir mangelhaften Lebewesen in dieses ‘man’ nicht einbezogen sind.
Beschämt trollen wir uns heimwärts.
Oder dies: Wir möchten Brot einkaufen. Die Auswahl, wie in allen deutschen Bäckereien, ist schier unendlich. André möchte ein Roggenbrot, aber nicht ein ganz dunkles.
“Haben Sie auch ein helles Roggenbrot,” frage ich. “Mein Mann hätte gern ein Helles.”
Die Verkäuferin zieht die Augenbrauen hoch. Sie betrachtet André schweigend.
Ähnlich fühlen sich wohl die exotischeren Tiere im Hagenbecker Zoo.
“Also, entweder will man Roggenbrot, oder man will keins,” sagt sie endlich.
Jedoch, dann hat sie Erbarmen und zeigt uns ein Mischbrot.
Wir nehmen es.
Weil wir Einsicht zeigen, dürfen wir sogar ein Halbes kaufen (das gibt es in Australien nicht!), und wir bekommen es geschnitten.
Fast jeden Tag werden wir mit irgendeiner Situation konfrontiert, die uns nachdenklich stimmt. Wie benehmen wir uns Ausländern, Migranten, Asylbewerbern gegenüber? Setzen wir auch voraus, dass die eigentlich wissen müssten, wie man das macht, wie das hier hier läuft – bei uns?
“Es gibt drei große Supermärkte,” habe ich ihm erklärt. Lidl und Sky liegen im Gewerbegebiet, der einzige Nachteil ist, dass man dann mit den schwer bepackten Fahrrädern den Schutzdeich hochfahren muss, um zurück in die Stadt zu kommen (ja: Wyk ist eine Stadt, schon seit 1910).
Es gibt allerdings auch einen Schleichweg, den ich gern bei starkem Wind fahre (hinten beim Baumarkt rum, über die Chaussee, in die Schifferstraße …).
Außer Lidl und Sky gibt es noch den großen Edeka Markt (Kaufring). Der Vorteil: er liegt in der Stadt und ist ausgezeichnet durchsortiert. Besonders bei älteren Herrschaften oder Leuten, die es eilig haben, beliebt, da er leicht mit dem Fahrrad oder zu Fuss zu erreichen ist. Allerdings ist das Meiste hier etwas teurer.
“Also, wir fangen bei Lidl an,” erkläre ich André. “Da besorgen wir den Grundstock. Dann machen wir bei Sky weiter und schließlich holen wir das, was wir sonst noch brauchen bei Kaufring.”
(Neben den drei Großen gibt es noch den Edeka am Südstrand, der das Ambiente eines edlen Feinkostgeschäftes hat, und Stammer – “Der letzte Kaufmann vor Dagebüll”.)
Anhand einer Stadtkarte mache ich ihm die Standorte dieser wichtigen Einrichtungen anschaulich. André gähnt. Macht nichts, sein Richtungssinn ist eh 100 mal besser ausgebildet als meiner. Wahrscheinlich hat ein kurzer Blick auf die Karte genügt – kommt er erstmal auf Föhr an, wird er sich sofort zurechtfinden.
Weil ich denke, dass ich damit sofort einen Treffer lande, beginnt unser erster Tag auf Föhr (après Rosie) mit einem Tripp zum Supermarkt. Da meine Schwester ihr Auto mitgebracht hat und wir ja nun wirklich alles brauchen, fahren wir im Auto ins Gewerbegebiet.
Entgegen meiner Erwartungen entpuppt sich der Besuch in diesem Einkaufsparadies aber als überwältigend.
Das Erlebnis ist ähnlich wie bei jemandem, der zum ersten Mal in seinem oder ihrem Leben eine virtuelle Welt besucht. Und natürlich – viel zu spät erinnere mich: Nichts in einem Supermarkt im Ausland ist wie das, was man erwartet oder von zuhause kennt.
Man erkennt den Umriss: Gänge, Regale, Waren – nur nichts ist halt so, wie man es gewöhnt ist. Fast alles hat einen anderen Namen, ist von einer anderen Marke, und steht am falschen Platz. Hilflos steht er da.
“I felt like a fish out of water. Surreal,” sagt er später.
Ich erinnere mich, dass dasselbe einer Schwägerin geschah, die lange Jahre auf einem Dorf in Norwegen gelebt hatte. Das reichhaltige Angebot, dieses Gefühl im falschen Traum gelandet zu sein, führte dazu, dass sie den Supermarktbesuch nach ihrer Rückkehr nach Melbourne lange ganz verweigerte.
Wir begreifen schnell, dass die neuen Eindrücke André zu überwältigen drohen. Wir gehen nun alles langsamer an: Wir schreiben eine Einkaufsliste.
Anstatt ungeduldig auf das richtige Regal zuzusteuern, halte ich mich zurück. Lasse ihm Zeit sich zu orientieren, einfach mal zu gucken, Sachen in die Hand zu nehmen, Etiketten in Ruhe zu entziffern.
Es klappt. Jetzt, nach drei Wochen, liebt er diese täglichen Entdeckungsreisen.
Täglich? In Melbourne kaufen wir einmal in der Woche ein!
Nun ja, erstens haben wir hier kein Auto, unsere Shopping Tripps sind ans Fahrrad und die Größe unserer Fahrradkörbe gebunden.
Zweitens hat unserer Kühlschrank hier – wie viele Kühlschränke in deutschen Familien – etwa ein Drittel der Größe unseres australischen Modells. Drittens fehlt uns der Grundstock, den wir zu Hause gemäß unseren Geschmäckern und Geflogenheiten aufgebaut haben.
Außerdem haben wir in Melbourne einen wöchentlichen Speiseplan, dem wir mit wenigen Abänderungen folgen. Es dauert eine Weile, bis wir das hier schaffen. Was essen wir heute Abend, ist eine Frage, die uns täglich aufs Neue konfrontiert.
Zum Beispiel sieht das Fleich hier anders aus – das Vieh wird anders zerschnitten und aufgeteilt. Was hier Rumpsteak genannt wird, heißt in Australien Porterhouse.
Die Schweinekoteletts, die André sich von seinem Schlachter mit einer dicken Speckrinde schneiden lässt, die er gern schön krosch bratet, werden hier ohne die Speckrinde verkauft. Es gibt so Sachen wie ‘Hochrippe’ oder ‘Tafelspitz’, ‘Kluftsteak’, ‘Kalbshinterhaxe’ oder ‘Hüftsteak’ von denen ich auch nicht weiß, was man damit anfängt.
Die Braten (Rinder-, Schweine- oder Lammbraten) sehen anders aus oder werden nur als große Familienbraten verkauft. Vorsichtig tasten wir uns an die Materie heran, probieren dies oder das, und sind erfolgreich. Wir entdecken Sachen, die wir auch zu Hause gern essen, zum Beispiel marinierte Hühnerflügel.
Und das zum Gulasch vorbereitete Fleisch ist sogar viel schmackhafter als in Australien.
Ich schwärme auch vom neuseeländischen Lamm, das aus irgendwelchen skurrilen Gründen in Australien nicht eingeführt werden darf.
Hier auf Föhr steht es – neben Föhrer Deichlamm – ganz oben auf meiner Liste.
Nur das Sauerfleisch, dass ich gern esse, reizt meinen Lebensgefährten noch nicht.
Aber ehe ich den Eindruck erwecke, dass alles nur schwierig ist, erzähle ich mal von den Höhepunkten. Einer davon ist die Leberwursttheke!
In Australien gibt es Leberwurst – ein paar Sorten.
Hier gibt es Leberwurstkünstler, die keine Mühe scheuen, diese Delikatesse immer wieder neu zu erfinden. Die Stufen von ‘fein’ bis ‘grob’ sind schier endlos. Die Geschmacksverfeinerungen setzen jeden Feinschmecker in Ekstase.
“Wollen wir mal wieder die Leberwursttheke besuchen?” Ein Satz, der Missmut sofort in Freude übersetzt.
Ditto die Käsetheke. Die Auswahl lässt mein Herz höher schlagen.
Und ich als echter Norddeutscher liebe natürlich die Auswahl an Rohem Schinken – Landrauch, Luftgetrockneter, Schwarzwälder, Nuss, Lachs oder Katenschinken sind nur einige Sorten. Dazu gehört natürlich jetzt im Mai frischer, weißer Spargel. Weißen Spargel gibt es in Melbourne nur für kurze Zeit im Jahr. Er ist teuer und ich kaufe ihn nicht, weil ich dem Geschmack nicht traue.
In Deutschland gehört Spargel zum Mai wie in Australien der Meat Pie (die Fleischpastete) zum Footie (Fussball).
Und lasst mich nicht von den Fischgeschäften – den Fischsalaten, den Herings- und Matjesbrötchen anfangen. Oder den frischen Matjes, der in vielen Restaurants auf drei Arten serviert wird.
Oder dem Räucheraal, den Makrelen, den grünen Heringen …
Die Gemüseabteilung wiederrum enttäuscht: Die Auswahl ist viel geringer und saisonbedingter als in Melbourne. ‘Broccolini’ zum Beispiel habe ich noch nie finden können.
Es gibt ein anderes Problem, das uns ständig konfrontiert: André weiß gar nicht, wie alles hier funktioniert.
Wenige Tage nachdem wir angekommen sind, verweigert die Waschmaschine den Dienst.
“Zuhause wüsste ich sofort was zu tun wäre ,” stellt André unglücklich fest. “Da hätte ich all meine Werkzeuge oder zur Not wüsste ich genau, welchen Handwerker ich anrufen müsste.”
Hier haben wir kaum Werkzeug – das, was noch von meinem Opa, dem Tischlermeister, da war, ist irgendwie im Laufe der Renovierung, die mittlerweile ins fünfte Jahr geht, verschwunden.
Zuhause regelt André alles was mit Handwerkern zu tun hat – hier muss er sich da ganz auf mich verlassen. Das ist frustrierend.
Sein “Unwissen” was deutsches Know-how betrifft, wird ihm immer wieder vor Augen geführt.
Ich brauche eine Eieruhr und finde auch ein nettes Modell (lila!) bei Kaufring in der Haushaltswarenabteilung. Ich trage es nach Hause und will es auch gleich einsetzen – nur: das Ding klingelt schwächlich, etwa wie eine Maus die ihr Leben aushaucht. Das bringt mir nichts.
“Das tragen wir zurück!”
Gesagt, getan. Wir machen auch sofort einen Verkäufer ausfindig, dem wir triumphierend die Unfähigkeit des Geräts unterbreiten. Er nimmt die Eieruhr ohne Kommentar in die Hand, zieht sie einmal auf, bis zu dem 60 Minuten Stand, und dreht sie dann zurück. Etwa eine Minute lang tickt das Ding lautstark und wichtigtuerisch. Wir warten alle drei gebannt, und dann klingelt es laut und schrill.
???
“Man muss es erst ganz aufziehen.” Der Triumph ist nun auf Seiten des Verkäufers.
“Aber das steht da nicht,” sagt André in seinem besten Deutsch.
“Nein – das weiß man,” lautet die Antwort.
Bumms.
Die Betonung, die er auf das ‘man’ legt deutet an, dass wir mangelhaften Lebewesen in dieses ‘man’ nicht einbezogen sind.
Beschämt trollen wir uns heimwärts.
Oder dies: Wir möchten Brot einkaufen. Die Auswahl, wie in allen deutschen Bäckereien, ist schier unendlich. André möchte ein Roggenbrot, aber nicht ein ganz dunkles.
“Haben Sie auch ein helles Roggenbrot,” frage ich. “Mein Mann hätte gern ein Helles.”
Die Verkäuferin zieht die Augenbrauen hoch. Sie betrachtet André schweigend.
Ähnlich fühlen sich wohl die exotischeren Tiere im Hagenbecker Zoo.
“Also, entweder will man Roggenbrot, oder man will keins,” sagt sie endlich.
Jedoch, dann hat sie Erbarmen und zeigt uns ein Mischbrot.
Wir nehmen es.
Weil wir Einsicht zeigen, dürfen wir sogar ein Halbes kaufen (das gibt es in Australien nicht!), und wir bekommen es geschnitten.
Fast jeden Tag werden wir mit irgendeiner Situation konfrontiert, die uns nachdenklich stimmt. Wie benehmen wir uns Ausländern, Migranten, Asylbewerbern gegenüber? Setzen wir auch voraus, dass die eigentlich wissen müssten, wie man das macht, wie das hier hier läuft – bei uns?